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Abrechnungsbetrug Nur sieben Bundesländer haben polizeiliche Spezialdienststellen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Wie BDK-Bundesvorsitzender Dirk Peglow berichtete, sind Spezialdienststellen bisher nur in sieben Bundesländern eingerichtet worden. Wie BDK-Bundesvorsitzender Dirk Peglow berichtete, sind Spezialdienststellen bisher nur in sieben Bundesländern eingerichtet worden. © studio v-zwoelf – stock.adobe.com
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Bei Betrug im Gesundheitswesen sprechen Kassen von Schäden im Millionenbereich. Genauere Daten fehlen – Vergleiche mit anderen Ländern lassen sogar Milliardenbetrug vermuten. Die Ermittlungsbehörden sind nicht gerüstet.

Dass die Kriminalitätsbekämpfung an diversen Stellen verbessert werden muss, darin waren sich die Vertreter aus Politik, Justiz, Kriminalpolizei und den Krankenkassen bei den 16. Berliner Sicherheitsgesprächen einig. Eingeladen zu der Veranstaltung „Tatort Gesundheitswesen! Ein Milliardenbetrug?“ hatte wie jedes Jahr der Bund Deutscher Kriminalbeamter e.V. (BDK), diesmal in Kooperation mit dem GKV-Spitzenverband. 

Mangelhaft stellt sich offensichtlich aber bereits die Schaffung evidenzbasierter Daten zu Kriminalitätsfällen dar, es gibt erhebliche Datenlücken. Daten aus dem Ausland lassen sich meist nicht direkt auf das deutsche Gesundheitswesen transferieren. Geplant ist deshalb eine große Dunkelfeldstudie. In den Details blieb ­Katharina Hoffmann, Bundesministerium für Gesundheit, recht unkonkret. Es scheint weiterhin unklar, wer die Studie in Auftrag geben wird und mit welchem Ziel. Darüber hinaus seien Ermittlungsbehörden besser auszustatten, sagte Hoffmann. Das werde alles im BMG diskutiert. Es gehe hier aber um ein Gesamtpaket, für das das BMG nicht allein zuständig sei. „Es besteht also Interesse an der Kriminalitätsbekämpfung, aber es fehlt der Impuls voranzukommen“, übersetzte das ein Teilnehmer der Veranstaltung.

Dunkelfeldstudie

Nach einer Dunkelfeldstudie der Universität Portsmouth entsteht Großbritannien durch kriminelle Handlungen jährlich ein Schaden von etwa 6,19 % der gesamten Gesundheitsausgaben, so der Bund deutscher Kriminalbeamter. Übertragen auf Deutschland mit seinen rund 263 Mrd. Euro Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen bedeute das, Kriminelle hätten durch Vermögensstraftaten annähernd 16,28 Mrd. Euro erlangt. 

Fälle von Abrechnungsbetrug haben sich 2021 verdreifacht

Dass man andere Baustellen habe, könne auf jeden Fall nicht als Argument herhalten, dass man keine Daten schaffe, äußerte Gernot Kiefer Unverständnis. Der Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes lobte aber insgesamt auch Fortschritte. 2016 sei vom Vorsitzenden der Innenministerkonferenz die Bekämpfung organisierter Kriminalität im Gesundheitswesen noch als alleinige Aufgabe der Kostenträger gesehen worden. Und der Vorsitzende der Justizministerkonferenz habe seinerseits die Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft für das Gesundheitswesen als nicht zielführend und nicht notwendig betrachtet. Mittlerweile gebe es ermutigende gute Beispiele wie die bayrische Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug im Gesundheitswesen. Dies sei ein Beleg, dass sich die Einstellungen verändert hätten, so der Kassenvertreter. Laut seinen Ausführungen liegen die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung festgestellten Schäden seit Jahren im zweistelligen Millionenbereich. Die polizeiliche Kriminalstatistik konstatiert bei der Anzahl der Fälle von Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen sogar annähernd eine Verdreifachung. 

Legt man internationale Studien zugrunde, nach denen der monetäre Schaden durch Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen mit 5-10 % der Gesamtausgaben beziffert wird, kann man in Deutschland von einem Schaden im zweistelligen Milliardenbereich ausgehen. Leider würden die polizeilichen Daten das tatsächliche Ausmaß der Schäden am Tatort Gesundheitswesen nur sehr eingeschränkt wiedergeben, erklärt Kiefer, da es sich um ein Kontrolldelikt handele – ohne Kontrolle lassen sich keine Verfehlungen finden und die Kassen können auch nichts rückfordern.

Der GKV-Vorstand bekräftig­te ausgehend von diesen Berechnungen die Notwendigkeit deutschlandweit einheitlicher, spezialisierter Ermittlungsstrukturen mit Schwerpunktstaatsanwaltschaften und spezialisierten Ermittlungsgruppen: „Kein Bundesland darf sich wegducken!“ Aus Sicht Kiefers sollte außerdem die Innenministerkonferenz mit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe das Ganze forcieren.

Wie BDK-Bundesvorsitzender Dirk Peglow berichtete, sind Spezialdienststellen bisher nur in sieben Bundesländern eingerichtet worden. Das sei „erschreckend“. Kritisch sei zudem, dass sich seine Kolleginnen und Kollegen „das notwendige Fachwissen für diese hochkomplexen Verfahren nebenbei aneignen müssen“. Und auch die IT-Ausstattung bei den Ermittlungsbehörden könne der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitsprozesse im Gesundheitswesen nicht mehr standhalten. 

Jörg Engelhard, Leiter eines Ermittlungs-Kommissariats im Landeskriminalamt Berlin, bezeichnete es als „Ritterschlag“, dass sich der größte Fachverband der Kriminalisten, der BDK, mit dem Thema „Tatort Gesundheitswesen“ beschäftige. Im Gesundheitswesen seien 2020 rund 421 Mrd. Euro verteilt worden. Diese Hausnummer wecke Begehrlichkeiten. „Der Markt ist aber durch eines nicht geprägt: durch Kontrollen, die es ermöglichen, den Markt sauber zu halten“, kritisiert der Ermittlerchef. Dass es einmal eine Zeitschrift für Medizinalstrafrecht geben werde, habe er sich übrigens vor Jahren nicht träumen lassen. 

Doch selbst gut aufgestellte Ermittlungsbehörden würden die Arbeit inzwischen „nicht mehr packen“, man habe es mit einem unglaublich komplexen Ermittlungsgebiet zu tun. Ärzte, Kliniken, Apotheken, Sanitätshäuser – alle rechneten unterschiedlich ab aufgrund unterschiedlicher Verträge. Vieles ginge dabei einfach verloren. Man versuche lediglich, den Hauptvorwurf herauszuarbeiten, dabei würde bei einer umfassenderen Recherche vielleicht mancher neue Fund den Hauptvorwurf noch in den Schatten stellen.

Aus Sicht von Engelhard sind auch bessere Entscheidungen der Politik gefordert. Die Testverordnung beispielsweise habe eindeutig Kriminalität befördernde Faktoren. Es wären jetzt mehr Kontrollen nötig, um das Entdeckungsrisiko groß zu halten. Kritik übte Engelhard an der politischen Entscheidung, die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Corona-Test-Kontrollen zu beauftragen. Das habe zuerst in Berlin mit den Senatsprüfstellen zu unnötigen Reibungsverlusten geführt. Nun würden Ordnungsämter zwangsläufig die Kontrollen übernehmen müssen, um die Ergebnisse dann den KVen zuzuspielen, die letztendlich die Regresse einforderten. Die KVen so aus den Kontrollen herauszunehmen bei Beibehaltung des kompletten Honoraranspruchs, hält Engelhard für falsch. Das Signal hieraus sei, dass dem Prüfgeschehen eine Nullsumme zugeordnet werde.

Transparency fordert Betrugs-Risikoprüfung für Gesetze

Die Antikorruptionsorganisation Transparency Deutschland schlägt die Einführung einer Risikoprüfung vor: Bei zukünftigen Gesetzentwürfen und Rechtsverordnungen müsse es vorab eine institutionalisierte Betrugs-Risikoprüfung geben. Aktuell geltende missbrauchsanfällige Vorschriften sollten zudem kurzfristig angepasst und regelmäßig überprüft und aktualisiert werden. Dabei sind Krankenkassen, Kontrollbehörden und Strafverfolgungsbehörden einzubeziehen. Rolf Blaga, Leiter der Arbeitsgruppe Medizin und Gesundheit von Transparency Deutschland, fordert vom Bundesgesundheitsministerium diesbezüglich zu handeln. 

Vorgaben zu Transparenz werden als Belastung gesehen 

Engelhard ist sicher, dass im Zuge der Pandemie noch viele Delikte aufgedeckt werden. Es gehe nicht nur um 12 ausgegebene Milliarden Euro im Bereich Teststellen, sondern auch um 7,6 Milliarden für den Rettungsschirm der Pflegedienste. Auch dort werde leider erst geprüft, nachdem die Gelder unbürokratisch ausgegeben wurden. „Wirtschaftskriminalisten befürchten schon, dass sie den Einschlag auffangen müssen, der sich hier entwickelt“, so der Kommissariatsleiter. 

Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gebe es jetzt bei allen Kassen, sie seien gesetzlich dazu verpflichtet, wie Kiefer erläuterte. Man arbeite auch mit den entsprechenden Stellen bei Ärztinnen und Ärzten zusammen. Das Optimum sei aber nicht erreicht, permanente Auseinandersetzungen gebe es z.B. beim Thema Kontrolldichte. Vorgaben zu Transparenz würden als Bürokratie und Belastung gesehen. Die Medizinischen Dienste hätten heute niedrigere Quoten zur Kontrolle von Abrechnungsbetrug als früher. Nicht mehr so viel zu kontrollieren, sei schon vor Corona unter Minister Jens Spahn eine klare politische Ansage gewesen. 

Quelle: 16. Berliner Sicherheitsgespräche

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