Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt, die Partner oder Ex-Partner verüben, ist auch im zweiten Jahr der Pandemie gestiegen. Wie Recherchen der WELT AM SONNTAG bei Innenministerien und Landeskriminalämtern in den 16 Bundesländern ergaben, wurden im vergangenen Jahr 160.921 Opfer polizeilich registriert. Das entspricht einem Anstieg von fast 1,3 Prozent gegenüber dem Jahr 2020. Zwei Drittel der erfassten Opfer sind Frauen. Doch das Dunkelfeld ist groß, weil viele sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sagte WELT AM SONNTAG, die Regierung wolle „den Zugang zu Schutz und Beratung bundesgesetzlich regeln, einen einheitlichen Rechtsrahmen für die verlässliche finanzielle Absicherung des Hilfesystems schaffen und es bedarfsgerecht ausbauen.“ Trotz der bundesweit rund 350 Frauenhäuser, 100 Schutzwohnungen und mehr als 600 Beratungsstellen sei das Angebot unzureichend. „Deshalb bauen wir Frauenhäuser und Beratungsstellen gemeinsam mit den Ländern weiter aus und stellen dafür 120 Millionen Euro aus Bundesmitteln bis 2024 zur Verfügung“, erklärte Paus.
Beim Vergleich der Bundesländer verzeichnet Thüringen mit 24 Prozent (3227 Opfer) den stärksten Zuwachs. Dahinter kommen Niedersachsen (plus 12,9 Prozent, 22.405 Opfer) und das Land Bremen/Bremerhaven (plus 9,1 Prozent, 3018 Opfer). Den größten Rückgang melden das Saarland (minus 7,1 Prozent, 2653 Opfer,) und Hamburg (minus 6,3 Prozent, 5058 Opfer).
Nordrhein-Westfalen (plus 4,7 Prozent, 34.235 Opfer) gehört zu den acht Bundesländern, in denen die Zahlen stiegen. Landesfamilienminister Joachim Stamp (FDP) findet die erneute Zunahme der Opferzahlen „erschütternd“. Die Corona-Pandemie mit etwa strengen Kontaktbeschränkungen oder Quarantänezeiten hätte die Vorfälle von häuslicher Gewalt noch verstärkt. NRW habe gerade eine Tarn-App entwickelt, hinter der sich Hilfsangebote des Opferschutzportals verbergen. „So wird Opfern der Zugang dazu ermöglicht, auch wenn deren Handys kontrolliert werden“, so Stamp.
Pandemie und Existenzängste haben die Lage verschärft
Laut Maria Loheide, Vorständin für Sozialpolitik bei der Diakonie, sind die Gründe für die Zunahme häuslicher Gewalt vielschichtig. Existenzängste durch Jobverlust und Kurzarbeit hätten viele Menschen in der Pandemie stärker getroffen. „Dazu kam das Leben in beengten Wohnverhältnissen und Homeschooling während der Pandemie.“ Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, sagt, dass der Mangel an bezahlbarem Wohnraum die Probleme verschärfe. „Weil die Frauen keine Wohnung finden, wird die Trennung vom gewalttätigen Partner erschwert, auch Auszüge aus den Frauenhäusern sind dadurch verzögert.“
Unter häusliche Gewalt fallen etwa Mord, Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, Bedrohung, Stalking, Freiheitsberaubung und Zwangsprostitution. Bisher gibt es allerdings keine einheitliche Erfassung.
Ein Großteil der Länder verwendet Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), aber eine Handvoll macht Sonderauswertungen, die darüber hinausgehen. Dadurch weisen die Länder etwas höhere Zahlen aus als das Bundeskriminalamt, das nur PKS-Zahlen verwendet. Auch sie zeigen, dass die Opferzahl in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Das BKA wird seinen Jahresbericht 2021 zur „Partnerschaftsgewalt“ im Herbst vorlegen.
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz (IMK), Joachim Herrmann (CSU), sagt: „Wir müssen die Maßnahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und zum Schutz der Opfer weiter verstärken.“ Impulse dazu erwarte er von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „Bekämpfung von geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten“, die die IMK im Juni 2021 eingesetzt hatte. Ein entsprechendes bundesweites Lagebild sei für 2023 geplant.
Dirk Peglow, Vorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), fordert „Delikte, deren Motivation darin liegt, dass Frauen gegenüber Männern minderwertig sind oder seitens der Täter aus einem männlichen Besitzanspruch an Frauen oder dem weiblichen Körper begründet sind“ als Hasskriminalität einzustufen. Der BDK geht davon aus, dass mindestens 20 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt Männer sind. Ihre Hemmschwelle, Anzeige zu erstatten, sei noch höher als bei Frauen.
Voraussichtlich Ende Mai wird der Jahresbericht des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ vorgestellt. Dieses ist bundesweit rund um die Uhr unter der Nummer 08000 116 016 geschaltet.