Als die europäische Koalition gegen das schwere und organisierte Verbrechen in dieser Woche in Hamburg tagte, hätte der Ort kaum hanseatischer sein können. Am Dienstagvormittag begrüßte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ihre Amtskollegen aus den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Spanien, Italien und Schweden im Internationalen Maritimen Museum. Über dem Konferenztisch hing der prächtige Nachbau eines Dreimasters aus dem 17. Jahrhundert, darunter das Modell eines roten Containerschiffs samt Ladung. 

Damit sind die Innenminister beim Thema. Denn Europa wird über seine Häfen und Containerterminals von einer Lawine an Kokain überrollt, die Folgen für die Gesellschaft hat, nicht nur in Hamburg. Die Droge führt zu Gewalt und Verelendung, auch durch das Crack, eine billigere Form des Kokains. Ein wachsender Teil kommt über Hamburg auf den Kontinent. Deshalb sitzen am Dienstag auch Bürgermeister Peter Tschentscher und sein Innensenator Andy Grote (beide SPD) mit am Tisch. Das Treffen sollte wirkungsvolle Schritte im Kampf gegen das Kokain bringen. ZEIT ONLINE beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wie gelangt das Kokain überhaupt nach Deutschland?

Etwa 2.300 Tonnen Kokain produzieren Kartelle in Bolivien, Kolumbien und Peru nach Angaben der Vereinten Nationen pro Jahr. In abgepackte Blöcke gepresst, kommt das weiße Pulver auf dem Seeweg nach Europa. Eine verbreitete Methode des Schmuggelns ist die "parasitäre Ladung". Dabei steckt das Kokain in Containern zwischen anderer Ware, etwa in Bananenkisten oder zwischen Holzplatten. Meist wissen weder Absender noch Empfänger etwas von der Schmuggelfracht. Doch auch Maschen wie sogenannte Drop-offs sind verbreitet. Dabei werden Kokainpakete bereits vor der Ankunft eines Containerschiffs von Crewmitgliedern in das Wasser geworfen und von Komplizen wieder aufgefischt. Beim Rip-on/Rip-off wiederum brechen Bergungsteams der Kriminellen in Hafenterminals ein und suchen die Ladung in einem bestimmten Container. Hamburger Fahnder berichten davon, dass das Kokain in einigen Fällen auch chemisch verändert und als sogenanntes Plastik-Kokain in der Form von Stühlen oder Rohren transportiert wird. Dann sei es selbst auf Röntgenbildern kaum mehr als Droge zu erkennen. 

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Warum landet so viel im Hamburger Hafen?

Von den rund 43 Tonnen Kokain, die Polizei und Zoll laut Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr in Deutschland sichergestellt haben, wurden 33,9 Tonnen am Hamburger Hafen aufgegriffen. Damit rangiert Hamburg auf Platz drei der Schmuggelhauptstädte in Europa – nach den Hafenstädten Rotterdam und Antwerpen. Dort gehen die Ermittler inzwischen energischer gegen die Banden vor und investieren in die Sicherung der Häfen. Weil die Schmuggler, wie Ermittler sagen, immer den Weg des geringsten Widerstands gehen, landete zuletzt mehr Kokain in Hamburg. Das könnte sich weiter verschärfen: Bereits im Frühjahr 2021 machte der Zoll in Hamburg den größten Kokainfund in der Geschichte Europas. 16 Tonnen des weißen Pulvers wurden in Schiffscontainern eines Frachters aus Paraguay entdeckt. Verkaufswert etwa eine Milliarde Euro.

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Kommt hier wirklich mehr an oder wird nur mehr entdeckt?

Noch vor acht Jahren, im Jahr 2016, lag die sichergestellte Menge an Kokain in Hamburg bei 1,8 Tonnen. Seitdem ist sie also um das 23-fache gestiegen. Optimistische Fahnder gehen davon aus, dass man 20 Prozent der geschmuggelten Drogen abfange. Andere gehen eher von zehn oder fünf Prozent aus. Das entspräche bis zu 700 Tonnen Kokain, die jährlich über Hamburg auf den Markt gelangen.

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Warum kann der Kokainschmuggel nicht gestoppt werden?

Theoretisch hätten Zollbeamte jeden der rund 246.000 Container, die aus Süd- und Lateinamerika in Hamburg im vergangenen Jahr umgeladen wurden, öffnen und durchsuchen können. Durch die Zeit, die das dauert, würden sie der Wirtschaft schaden, die ohnehin schwächelt. Deshalb macht der Zoll nur Stichproben. Seit den Neunzigerjahren unterhält er in Hamburg eine Containerprüfanlage. Damit können 60 bis 80 Container pro Tag überprüft werden. Die Anlage ist eine Art Röntgenstraße. Sie wird aber nur werktags betrieben und nur zwischen 6 Uhr und 22 Uhr. 

Zudem haben die Kartelle mutmaßlich viele Komplizen im Hafen, sogenannte Innentäter. Immer wieder leiten Mitarbeiter der Terminalbetreiber und Logistikfirmen die Container um oder bringen sie mit einem Lastwagen im Auftrag der Kartelle in Lagerhallen, von wo aus die Kokainblöcke weiterverteilt werden. Für einfache Handgriffe bieten die Banden den Hafenarbeitern teils mehrere Zehntausend Euro an. Sobald sie sich einmal am Schmuggel beteiligt haben, sinken die Summen aber, und wer aussteigen will, wird oft bedroht. 

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Wie viele Menschen nehmen Kokain?

Dazu gibt Hochrechnungen des Instituts für Therapieforschung aus München. Sie besagen, dass 2021 knapp 818.000 Menschen in Deutschland zu Kokain griffen. Anhand anderer Studien zum Suchtpotenzial lässt sich vermuten, dass bis zu 250.000 Menschen in Deutschland kokainabhängig sind. Die jüngste Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zeigt anhand von Abwasseruntersuchungen, dass der Kokainkonsum zum Beispiel in Berlin stark angestiegen ist: Im Jahr 2018 lag laut Studie der durchschnittliche Kokainrückstand pro 1.000 Personen bei 343,08 Milligramm, während er im Jahr 2021 auf 541,34 Milligramm gestiegen war. 

Seit 2015 hat sich die Rückstandskonzentration im Abwasser mehr als verdreifacht – den Trend des kontinuierlichen Anstiegs des Kokainkonsums in ganz Europa beobachtet auch die EMCDDA. Neben Berlin wird nach den Abwasseruntersuchungen in Dortmund, Hamburg, Frankfurt und Hannover und München mutmaßlich besonders viel Kokain konsumiert, schreibt die EMCDDA.

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Was ist über die kriminellen Strukturen bekannt?

Das Bundeskriminalamt erfasste im vergangenen Jahr rund 36.000 Straftaten im Zusammenhang mit Kokain. Um das Kokain zu den Konsumenten zu bringen, gehen die Banden arbeitsteilig vor. Einzelne Kriminelle unterhalten etwa die Kontakte nach Südamerika, weitere Gruppen spezialisieren sich auf die Bergung der Ladung aus Containern im Hamburger Hafen oder treten als Zwischenhändler auf. Im Endverkauf sind mobile Lieferdienste dominant, sogenannte Kokstaxis, die ein Gramm für 60 bis 90 Euro verkaufen. Im Regenwald von Peru, wo das Kokain in Laboren aus den Blättern des Kokastrauchs hergestellt wird, ist ein Gramm nur etwa 1,20 Euro wert. "Die Margen sind extrem", sagt ein Beamter.

Im Zuge der Encrochat-Enthüllungen wurden in Deutschland 3.964 Ermittlungsverfahren eröffnet und 1.708 Haftbefehle vollstreckt. Allein in Hamburg gab es weit mehr als 200 Encrochat-Fälle. Zusätzlich führte das geknackte Chatprogramm Sky ECC zu 750 neuen Verfahren und 482 Haftbefehlen. Das alles schwächte die organisierte Kriminalität aber kaum, längst sind andere Kriminelle nachgerückt. Auch der Verkaufspreis der Droge, der nach Sicherstellungen größerer Mengen eigentlich steigen müsste, verändere sich kaum.

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Welche Gefahren sieht die Bundesinnenministerin?

Bereits im Frühjahr warnte Nancy Faeser von einer "unfassbaren Gewaltspirale", die das Kokain in Teilen Europas bereits in Gang gesetzt habe. Dies gelte es in Deutschland zu verhindern. Sie meint Zustände wie in den Niederlanden: Dort beging die Drogenmafia mutmaßlich mehrere Morde, unter den Opfern war der Journalist Peter de Vries. Die Banden bauten Seecontainer zu schallisolierten Folterkammern aus.

Faeser sagt, Europa habe eine Mitverantwortung für die Situation in Südamerika. Die hohe Nachfrage führe zu "Menschenhandel, Korruption und Umweltzerstörung" in den dortigen Herkunfts- und Transitländern des Kokains. Nachdem die Drogenbanden in Ecuador zuletzt eine Welle der Gewalt entfesselt hatten und der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio ermordet worden war, wurde der Ausnahmezustand in dem Land verhängt.

Nicht zuletzt stelle das Kokain auch eine Gefahr für die Gesundheit der deutschen Konsumenten dar, heißt es von Bundesbehörden. Zwar stieg Reinheitsgrad des Kokains in den vergangenen Jahren stark an, die Droge wird aber bereits in Südamerika unter anderem mit Entwurmungsmitteln für Tiere gestreckt.  

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Wie kam es zu dem Treffen in Hamburg?

Die europäische Koalition gegen das schwere und organisierte Verbrechen trifft sich regelmäßig, und die Kokainschwemme besorgt Politiker auf allen Ebenen. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) wurde, so ist im Rathaus zu hören, direkt von seinen Amtskollegen in Rotterdam und Antwerpen davor gewarnt, dass die Hansestadt verstärkt ins Visier der Banden gerate. Bei einem Treffen deutscher Behörden in Hamburg wurde bereits im Herbst eine "Allianz sicherer Hafen" gegründet. Sowohl die drei Bürgermeister aus Hamburg, Rotterdam und Antwerpen als auch die Bundesinnenministerin reisten daraufhin nach Südamerika, um über eine bessere Zusammenarbeit zu sprechen. Auch dabei stand das Thema Kokain im Fokus. 

Faeser lud nun ihre Amtskollegen aus Südamerika zu dem Treffen in Hamburg ein. Doch zu Beginn blieben die vorgesehenen Plätze leer, später am Tag kamen lediglich die Botschafter von Kolumbien, Peru und Brasilien zu einem Arbeitsessen der europäischen Minister hinzu. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums verwies auf die weite Anreise, die für die Minister aus Südamerika angefallen wäre. Im Fokus des Treffens habe ohnehin die innereuropäische Abstimmung gestanden.

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Was vereinbarten die Teilnehmer?

Bei Eröffnung des Treffens sagte Nancy Faeser, dass Banden die Häfen "unterwandert" hätten. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) verwies in einem kurzen Grußwort darauf, dass die Kokainschwemme kein alleiniges Problem seine Stadt sei. Deshalb müsse die Vernetzung aller beteiligten Länder und Behörden die höchste Priorität haben. Auch die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, der BKA-Präsident Holger Münch und der Chef des Zollkriminalamtes, Tino Igelmann, nahmen an dem dem Treffen teil.

Die anschließenden Beratungen fanden hinter verschlossenen Türen statt. Am Dienstagnachmittag trat Nancy Faeser vor die Presse: Die Konferenz sei wichtig gewesen, um "Maßnahmen zu bündeln" und für einen "maximalen Ermittlungsdruck" zu sorgen. Helfen solle dabei ein Papier, das die Ministerin Hamburger Erklärung nennt: Darin halten die Teilnehmer des Gipfels fest, kriminelle Netzwerke zerschlagen zu wollen, unter anderem durch Finanzermittlungen. Die Staaten wollen die Ermittlungszusammenarbeit mit den Produzentenländern erhöhen, außerdem soll die Korruptionsprävention bei den Akteuren an den europäischen Häfen erhöht und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Behörden erreicht werden. Auch Schweden tritt der Koalition gegen das organisierte Verbrechen bei. 

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Welche Schritte wurden bereits eingeleitet?

Hamburg plant die Einrichtung eines sogenannten Hafensicherheitszentrums, das die Arbeit von Zoll und Polizei besser koordinieren soll. Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel sagte zuletzt, es ein "Meilenstein in der Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität" sein. Große Hoffnungen setzt die Politik in der Stadt auch auf das Projekt INOK (Infiltration der Nordseehäfen durch Strukturen der Organisierten Kriminalität), das von der EU gefördert wird. Es soll nicht nur die Kontrollen verbessern, sondern auch Prävention leisten. 

Zuletzt stellte der Bürgermeister Tschentscher in Hamburg dazu eine Awarenesskampagne vor. Sie soll Hafenarbeiter davor warnen, sich mit den kriminellen Banden einzulassen. Zudem richtet die Stadt ein anonymes Hinweisportal ein, um mehr Hafenmitarbeiter, die sich an Drogengeschäften beteiligen, zu ermitteln und zu bestrafen. Bislang ist erst eine niedrige zweistellige Zahl solcher Komplizen bekannt geworden, die Polizei geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

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Welche Probleme bleiben?

Die Deutsche Zollgewerkschaft begrüßte zwar, dass die Politik den Kampf gegen das Kokain verstärkt aufnimmt, forderte zuletzt aber auch bessere Ausstattung der Beamten. Südamerikanische Länder wie Peru wünschen sich ebenfalls bessere Ausrüstung, um schon dort effektiv gegen die Kartelle und ihre Kokaplantagen vorgehen zu können. 

Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sieht noch offene Punkte. Solange es etwa vorbestraften Menschen mit Kontakten ins Drogenmilieu erlaubt sei, einen Job im Hamburger Hafen mit Zugang zu Containern und Anlagen anzunehmen, werde man das Problem der im Drogengeschäft verwickelten Hafenmitarbeiter kaum lösen können. Selbst Freigänger aus Gefängnissen verdingten sich dort wieder in Drogengeschäften.

Andere Ermittler räumen ein, dass bei einer besseren Zusammenarbeit aller europäischen Behörden auch der Importdruck verringert werden müsse. Dafür gebe es zwei Wege: den Anbau in Südamerika streng einzugrenzen, oder die Nachfrage aus den europäischen Ländern zu senken.

Wie das gelingen kann, ist nicht absehbar. Stärker will die deutsche Politik auch die Konsumenten ansprechen, nicht nur wegen der möglichen Gesundheitsfolgen des Konsums, sondern auch in ihrer moralischen Verantwortung. Ein unbedenkliches Naturprodukt sei das Kokain keinesfalls.

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