10 Jahre nach dem Erfurt-Massaker noch keine Aufklärung

25.04.2012

In dieser Woche jährt sich das Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zum zehnten Mal. Am 26.04.2002 war der 19-jährige Robert Steinhäuser schwer bewaffnet in seine Schule eingedrungen und hatte 16 Menschen hingerichtet, bevor er sich selbst das Leben nahm.
10 Jahre nach dem Erfurt-Massaker noch keine Aufklärung

Die Bevölkerung in Deutschland war schockiert und Politiker versprachen, die schrecklichen Taten vollständig aufzuklären und alles dafür zu tun, dass sich ein derartiges Ereignis nicht wiederholen kann. „Nach Erfurt aber kamen Coburg, Emsdetten, Winnenden, Ludwigshafen, Lörrach.“ – schreibt Ines Geipel im Vorwort zu ihrem erst in diesem Frühjahr erschienenen Buch ‚DER AMOKKOMPLEX oder die Schule des Tötens’ (S. 7). Und weiter: „Mehr als 100 Menschen wurden in Deutschland allein im vergangenen Jahrzehnt durch hochkalibrige Schusswaffen getötet.“

Hat die Politik also ihre Versprechen nach Erfurt eingelöst? Schon die Aufzählung der danach folgenden Verbrechen spricht dagegen. Vor allem das Massaker in Winnenden und Wendlingen vom 11.03.2009, das durch die Verfügbarkeit der großkalibrigen Tatwaffe im elterlichen Haushalt ermöglicht wurde, hat bewiesen, dass das zweite Versprechen gebrochen wurde.

Und wieder wurden viele Kommissionen und Arbeitsgruppen eingesetzt, die Maßnahmepläne und Empfehlungen erarbeiteten. Das Waffenrecht wurde erneut verschärft und unzählige Beiträge von Experten veröffentlicht, die ihre teilweise unterschiedlichen Bewertungen darstellten.

10 Jahre nach Erfurt noch keine Aufklärung? Kann das denn überhaupt sein? Schließlich hatte es doch einen ausführlichen „Bericht der unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Verbrechen im Erfurter Gutenberg-Gymnasium“ gegeben, die Anfang 2004 durch die thüringische Landesregierung eingesetzt worden war und sogar unter Leitung des damaligen Justizministers Karl-Heinz Gasser stand. Zur Einsetzung dieser Kommission war es durch zahlreiche Hinweise auf Versäumnisse beim polizeilichen Einsatz und der Untersuchung der Verbrechen im ersten Buch „Für heute reicht’s“ von Frau Geipel gekommen.

Welches Ziel hatte der zu Ostern 2004 vorgelegte Bericht eigentlich?

Die Autorin beantwortete diese Frage in ihrem 2012 erschienenen Buch so: „Im Kern hatte der Bericht die Funktion zu erfüllen, die Strafanzeigen der Angehörigen abzuweisen. Das geschah denn auch, im Sommer 2004, und zwar in allen Punkten. In ihrem Widerspruch zur Einstellung durch die Erfurter Staatsanwaltschaft heißt es von Seiten der Angehörigen: ‚Die Einstellungsentscheidung durch Sie beruht nicht auf eigener Ermittlungstätigkeit. Zur Bearbeitung der Strafanzeige wurden allein die Ermittlungsakten der Gasser-Kommission herangezogen. Nachvernehmungen wurden nicht durchgeführt.“ (S. 144)

Dass der Verzicht der Staatsanwaltschaft auf eigene Ermittlungen eindeutig rechtswidrig war und im Kern den Verdacht einer Strafvereitelung im Amt begründet, ergibt sich – man glaubt es kaum – aus dem Bericht selbst: „Ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass die Kommission nicht über staatsanwaltschaftliche oder kriminalpolizeiliche Ermittlungsbefugnisse verfügte und deshalb auf die freiwillige Kooperation der zur Aufklärung befragten Stellen und Behörden angewiesen war.“ (S. 10)

Was folgt daraus?

Demzufolge haben die Ergebnisse der Kommission prozessrechtlich keine Bedeutung und müssen die für die vollständige Tataufklärung bedeutsamen neuen Fakten erst durch polizeiliche bzw. staatsanwaltschaftliche Ermittlungen neu erhoben werden. Dies ist offenbar nicht geschehen.“

Dieses Fazit zog der Verfasser aus seiner Analyse des Kommissionsberichtes, die im Heft 12/2005 der BDK-Fachzeitschrift „der kriminalist“ veröffentlicht wurde („Versäumnisse bei der Aufklärung des Erfurt-Massakers“).

Kann es sein, dass dieser Beitrag einfach unterging oder trotz der über 30-jährigen Berufserfahrung des Autors in der Kriminalitätsbekämpfung als völlig belanglos eingeschätzt wurde? Dagegen spricht zumindest, dass er die Einladung der Leitung der KPI Erfurt zu einer gemeinsamen Diskussion mit den Kriminalisten vor Ort, die dieses Verfahren bearbeitet haben, bereits Anfang Januar 2006 angenommen hatte.

Oder ist es möglich, dass die Staatsanwälte in Thüringen die deutsche Strafprozessordnung nicht kennen? M. E. sicher nicht. Folglich muss es andere Erklärungen für das skandalöse Versagen der Staatsanwaltschaft geben.

Sie (gemeint ist die Staatsanwaltschaft) übernahm die Interpretationsvorgaben des Berichts eins zu eins. Dass ein solcher Vorgang juristisch heikel ist, schien in Thüringen nicht von Belang. Außerhalb von Thüringen auch nicht.“ (S. 144)

Die letzten beiden Aussagen von Frau Geipel im ‚Amokkomplex’ treffen allerdings nicht zu, denn es war nicht heikel oder fragwürdig, sondern eindeutig rechtswidrig. Und der Autor dieses Beitrages gehört zur Landespolizei in Mecklenburg-Vorpommern, die sich bereits seit dem Jahr 2000 sehr intensiv im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Greifswald mit qualitativen Analysen der Bearbeitung von Tötungsdelikten durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte beschäftigt hatte. „Als er (gemeint ist der Verfasser) im Jahr 2004 die Ergebnisse (auf einer wissenschaftlichen Tagung) vortragen wollte, wurde ihm das vom LKA-Direktor untersagt. Der Grund …: Die Defizite der polizeilichen Ermittlungstätigkeit und Probleme der Rechtsanwendung bei Staatsanwälten und Richtern sollten vertuscht werden. …“ Diese Erklärung findet sich bei Jürgen Roth, Rainer Nübel und Rainer Fromm im Nachwort ihres 2007 erschienenen Buches „Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz“ (S. 281), dessen Titel offenbar auch zur Charakterisierung des Umganges der Justiz mit dem Erfurter Massaker passt.

Die Verweigerung der Tagungsteilnahme wurde übrigens durch das inzwischen rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts Rostock vom 05.07.2011 (5 Sa 86/11) als Teil systematischen Mobbings durch den damaligen Direktor und seinen Leiter des Leitungsstabes (der heute als Direktor des LKA Mecklenburg-Vorpommern tätig ist) festgestellt.

Doch sehen wir uns die Bewertung des Kommissionsberichtes von Frau Geipel in ihrem aktuellen Buch noch einmal näher an:

Der schwarze Freitag von Erfurt war eine extreme Notsituation. Doch planloses Nichtstun und ausgebliebene Hilfeleistung durch ein solches Dossier noch einmal in dieser Form festzuschreiben und damit zu legitimieren, wird zum Zynismus, zu einem Gefälligkeitsgutachten, zu einem toten Rennen um die Erinnerung“.

Worum ging es also? Offensichtlich darum, das Versagen der Landesbehörden und der Landesregierung in Thüringen zu vertuschen. Aber auch die Bundesbehörden haben hier m. E. kläglich versagt, denn die Exekution von einem glatten Dutzend Lehrern innerhalb von 10 Minuten – ähnlich einem Massaker an Gefangenen in einem Krieg – war ein Angriff auf die innere Sicherheit in Deutschland und hätte die vollständige Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt erfordert.

Alles Mitgefühl gilt nicht nur am 26.04. 2012 den Angehörigen der Opfer des Erfurter Massakers. Die Verantwortlichen für die bisher unterbliebene Aufklärung aber sollten den Gedenkveranstaltungen besser fernbleiben, denn nötig sind keine wiederkehrenden rituellen Andachten und leeren Versprechungen, sondern rückhaltlose und vollständige Aufklärung – endlich!!!