Artikel: Straftaten in Hamburg - Auf Nummer sicher

13.02.2018

Polizeichef und Innensenator sind in Feierlaune, denn die Zahl der Straftaten sinkt deutlich. Aber wer das ganze Bild ermittelt, bemerkt schnell: Der Erfolg hat seine Schattenseiten (von Sebastian Kempkens)
Artikel: Straftaten in Hamburg - Auf Nummer sicher

Selbst routinierte Veranstaltungen wie Pressekonferenzen der Polizei können zu beinahe euphorischen Happenings werden, wenn die richtigen Männer auf die richtigen Zahlen treffen. Am vergangenen Freitag bewiesen das Innensenator Andy Grote (SPD) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Grote leitete die jährliche Vorstellung der Hamburger Kriminalstatistik mit einer launigen Bemerkung zu seinem obersten Polizisten ein: "Schon letztes Jahr war er stolz wie Bolle, ich bin auf die Steigerung gespannt." Und Meyer tat sein Bestes: "Ganz großes Kino" sei die Arbeit seiner Leute. "Wo gehobelt wird, da fallen Zahlen", versuchte Meyer ein Wortspiel, und ja, seine Kollegen hätten gehobelt. Dann zeigte er die erste Folie seiner Präsentation und frohlockte: "So ein Bild habe ich noch nie gesehen, das lasse ich jetzt mal wirken."

Wer Meyers Anregung folgte, sah ein schlichtes Balkendiagramm: viele Balken, die Fortschritt signalisierten, und wenige für die Probleme. Die Botschaft: Hamburg ist, zumindest nach Statistik der Polizei, deutlich sicherer geworden.

Das ist natürlich ein Grund zur Freude, aber es ist zugleich nicht die ganze Geschichte, und so musste man bei der Vorstellung der Zahlen auch an den großen Hamburger Kabarettisten Nico Semsrott denken, aus dessen Programm der etwas pessimistische Satz stammt: "Freude ist nur ein Mangel an Information." Am Ende ist es komplizierter, als ein paar Balken es ausdrücken könnten.

Aber dazu später mehr, tatsächlich gibt es ja durchaus Positives zu berichten. Zum zweiten Mal in Folge registrierte die Polizei in Hamburg weniger Straftaten als im Vorjahr, knapp 226.000 waren es 2017, ein Rückgang um 5,6 Prozent im Vergleich zu 2016 und der niedrigste Wert seit 1980. Weniger Delikte gab es demnach etwa bei den Fahrraddiebstählen, Wohnungseinbrüchen und Körperverletzungen. Auf 100.000 Einwohner kamen nach polizeilicher Statistik im vergangenen Jahr 12.480 Straftaten, ein Rückgang von fast sieben Prozent.

Nur 44 Prozent der Straftaten werden aufgeklärt – München ist besser

Auch bei den Gewaltdelikten wie Raub und gefährliche Körperverletzung verzeichnete die Polizei ein Minus von knapp neun Prozent auf 7841 Fälle. Die Jugendgewaltkriminalität ging gar um gut 17 Prozent zurück. Auch der Anteil der Tatverdächtigen mit Flüchtlingsstatus ist rückläufig: In 7,9 Prozent aller Fälle wurden Flüchtlinge verdächtigt, ein Jahr zuvor waren es noch 9,1 Prozent.

Fast gebetsmühlenartig betonte Grote, dass dieser positive Trend "trotz" dreier Faktoren zu verzeichnen sei: trotz des Wachstums in Hamburg (mehr Menschen gleich mehr Verbrechen), trotz des Barmbek-Attentats (das viele Polizeikräfte gebunden hat) – und trotz des G20-Gipfels. Hier nun beginnt der Euphorie-dämpfende Teil, denn dieses "trotz G20" vermittelt einen irreführenden Eindruck: Nur etwa 600 der 3000 Ermittlungsverfahren rund um den Gipfel fanden Eingang in die vorgestellte Statistik. Ein Großteil dürfte darin auch nie erfasst werden, denn politisch motivierte Kriminalität wird in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht geführt.

Zudem entwickelten sich nicht alle Bereiche positiv. Noch nie sei die Gefahr so gering gewesen, Opfer einer Straftat zu werden, verkündete Grote auf der Pressekonferenz. Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Dennis Gladiator konterte wenig später: "Und in kaum einer anderen Stadt in Deutschland ist als Straftäter die Gefahr so gering, erwischt zu werden." Tatsächlich liegt die Aufklärungsquote in Hamburg mit rund 44 Prozent im Vergleich der Großstädte im unteren Bereich, München beispielsweise hat eine Quote von gut 61 Prozent.

In einigen Kriminalitätsfeldern verschlechterte sich die Lage. So stieg die Zahl der versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikte um sechs Fälle auf 74 Taten, darunter fünf "vollendete Morde". Auch hier zeigen sich die Grenzen der Polizeistatistik, in der für Morde eine stolze Aufklärungsquote von 100 Prozent notiert wird. Wie das möglich ist, wenn der Mord an der Kennedybrücke und jener der zerstückelten Prostituierten in St. Georg noch nicht aufgeklärt sind? Die Fälle sind noch nicht "ausermittelt" und werden deshalb nicht aufgeführt, heißt es von der Polizei. Eingang in die Statistik finden nur abgeschlossene Fälle.

Stark angewachsen sind zwei Balken in Meyers Grafik: die Kategorien Warenkreditbetrug, also Fälle, in denen beispielsweise auf Rechnung bestellt und dann nicht bezahlt wird, und "sonstiger Betrug". Das steht für ein breites Deliktfeld vom Enkeltrickbetrüger über den Gebrauchtwagenhändler, der den Tacho manipuliert, bis hin zum Sozialversicherungsbetrug. Für Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter ist dieser Anstieg kein Zufall. Reinecke sagt, die Probleme mit dem Betrug stünden für vieles, was in der Polizei derzeit schiefläuft. Betrug sei kein besonders neues Kriminalitätsphänomen, werde aber noch immer "stiefmütterlich" behandelt. "Da häufen sich seit Jahren Tausende Fälle", sagt Reinecke.

Die Beamten der vielen Sokos fehlen anderswo, kritisiert ein Experte

Betrug aufzuklären sei aufwendig, sagt Reinecke, dafür fehle der Polizei das Personal, das bei einer Million Überstunden chronisch überlastet ist. Und die Fälle seien kaum öffentlichkeitswirksam, deshalb würden keine Schwerpunkte gebildet, geschweige denn Sonderkommissionen.

Überhaupt, das Thema Sokos. In Hamburg gibt es derzeit ziemlich viele davon – eine Entwicklung, mit der sich der Innensenator schmückt und die Reinecke für bedenklich hält. Grote hatte verkündet: "Die Sokos wirken." Und tatsächlich: Etwa bei den Wohnungseinbrüchen wurde ein Zehn-Jahres-Tief erreicht. Die Frage ist nur: zu welchem Preis?

Reinecke findet: Dass der Trend in Hamburg zur Soko gehe, zeige die strukturellen Probleme. Die Polizei habe Sonderkommissionen eingerichtet für Phänomene der Alltagskriminalität, für die es bereits zuständige Fachdienststellen gebe, etwa für Rauschgiftdelikte, Wohnungseinbrüche oder Rocker-Kriminalität. Die Mitarbeiter, die für die Sokos zusammengezogen würden, fehlten andernorts, teils wechselten sie einfach von Soko zu Soko. So bilde sich in den übrigen Abteilungen ein großer Arbeitsstau, Tausende Fälle verstaubten auf den Fensterbrettern der Beamten. Wenn sie wieder aufgenommen würden, sei es oft schon zu spät.

Dennis Gladiator von der CDU fordert deshalb, die Sokos zu dauerhaften Arbeitsschwerpunkten zu machen. Der positive Trend zeige ja: "Wenn man will, kann die Polizei erfolgreich sein." Nur müsse eben auch die personelle Ausstattung stimmen.

Ihre positive Einschätzung der Gesamtlage dämpften Meyer und Grote dann aber auch noch selbst. Auch wenn objektiv die Sicherheit zunehme, gelte es, das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen weiter zu stärken, sagte Grote. "Erst beim Sicherheitsgefühl beginnt auch die Lebensqualität." Da gebe es noch einiges zu tun.

http://www.zeit.de/2018/07/straftaten-hamburg-polizeichef-innensenator-statistik

diesen Inhalt herunterladen: PDF