Datenschutz für Zeugen im Strafverfahren mangelhaft

04.03.2023

Anschriften von Zeugen werden unnötig offengelegt
Vernehmung

Bei vielen Opfern und weiteren Zeugen insbesondere von Gewaltdelikten herrscht Unverständnis und Unbehagen darüber, dass ihre Personaldaten samt Wohn- oder Aufenthaltsanschrift dem Täter mittels Akteneinsicht seines Rechtsanwaltes bekannt gemacht werden können. Neben einer ggf. tatsächlich im Raum stehenden Gefährdung sollte dieses Sicherheitsempfinden der Zeugen Berücksichtigung finden.

Im kriminalpolizeilichen Alltag ist immer wieder festzustellen, dass vor dem Hintergrund einer von den Zeugen selbst angenommenen potenziellen Bedrohung die Bereitschaft an der Mitwirkung im Ermittlungsverfahren gar nicht oder nur noch sehr eingeschränkt erfolgt. Dies wird von Zeugen nach Wahrnehmung des BDK immer häufiger entsprechend kommuniziert.

Tatsächlich begegnen Kriminalistinnen und Kriminalisten regelmäßig dem Phänomen, dass durch die Täterseite nach der Tat versucht wird, Einfluss auf die Zeugen zu nehmen bzw. den Zeugen schon bei der Tatbegehung angedroht wird, dass die Erstattung einer Strafanzeige Repressalien nach sich zöge.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern es für die Verteidigung erforderlich ist, von den Wohn- oder Aufenthaltsanschriften der Zeugen Kenntnis zu erlangen. Eine generelle Notwendigkeit für die Bekanntgabe der Anschrift ist für den BDK nicht erkennbar, in begründeten Einzelfällen könnten diese der Verteidigung jederzeit bekannt gemacht werden.

Im Fokus der hier vorgenommenen Betrachtung stehen nicht die vergleichsweise wenigen für die Öffentlichkeit herausragenden Fälle, sondern vielmehr auch die Masse sogenannter Alltagsdelikte.

Der Gesetzgeber hat mit dem § 68 StPO bereits weitreichende Möglichkeiten des Zeugenschutzes ermöglicht und geregelt, so im § 68 Abs. 2 StPO, den sogenannten "kleinen Zeugenschutz":

(2) Einem Zeugen soll zudem gestattet werden, statt der vollständigen Anschrift seinen Geschäfts- oder Dienstort oder eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben, wenn ein begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch die Angabe der vollständigen Anschrift Rechtsgüter des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet werden oder dass auf Zeugen oder eine andere Person in unlauterer Weise eingewirkt werden wird. In richterlichen Vernehmungen in Anwesenheit des Beschuldigten und in der Hauptverhandlung soll dem Zeugen gestattet werden, seinen Wohn- oder Aufenthaltsort nicht anzugeben, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 bei dessen Angabe vorliegen.

Die Schwelle ist mit der Formulierung "ein begründeter Anlass zu der Besorgnis" durch den Gesetzgeber eher niedrig angesetzt worden, da es demnach keiner konkreten Gefährdung bedarf. Das Problem ist jedoch die Umsetzung des kleinen Zeugenschutzes bei der in der Fallbearbeitung regelmäßig überlasteten Polizei und Justiz. Die Ursache dürfte darin zu suchen sein, dass die Umsetzung des kleinen Zeugenschutzes in der Aktenführung noch nicht standardisiert worden ist und so einen erheblichen Mehraufwand bedeutet, für den aufgrund der anfallenden Arbeitslast oft die Zeit und die praktische Erfahrung fehlt.

Denn in der Regel werden bereits bei der Anzeigenaufnahme die vollständigen Daten (mit Anschrift) der Zeugen erfasst und Aktenbestandteil. Zeugen (die noch unter dem Eindruck des Geschehens stehen) sind bei der Anzeigenaufnahme oft überfordert, sich in diesem Moment bereits Gedanken über eine zu ihrer Wohnanschrift alternativen ladungsfähige Anschrift zu machen. Für die Polizeibeamten ist es bei der Anzeigenaufnahme zudem schwierig abzuschätzen, inwieweit die Voraussetzungen des "kleinen Zeugenschutzes" vorliegen.

Es ist daher aus Sicht des BDK nach Lösungen zu suchen, bei denen einerseits bereits bei den ersten polizeilichen Maßnahmen zur Aufklärung einer Straftat eine Sicherung der für das Führen des Ermittlungsverfahrens erforderlichen Daten der beteiligten Personen erfolgt, andererseits aber eine Weitergabe der kompletten personenbezogenen Daten der Zeugen im Zuge der Akteneinsicht durch Rechtsbeistände verhindert wird. Diese Verfahrensweise sollte standardisiert und somit ohne einen Mehraufwand umsetzbar sein. 

Der § 68 Abs. 4 StPO sieht in diesem Zusammenhang vor, dass die Unterlagen mit den vollständigen Angaben der Zeugen gesondert bei der Staatsanwaltschaft verwahrt werden:

(4) Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Voraussetzungen der Absätze 2 oder 3 vorliegen, ist der Zeuge auf die dort vorgesehenen Befugnisse hinzuweisen. Im Fall des Absatzes 2 soll der Zeuge bei der Benennung einer ladungsfähigen Anschrift unterstützt werden. Die Unterlagen, die die Feststellung des Wohn- oder Aufenthaltsortes, der vollständigen Anschrift oder der Identität des Zeugen gewährleisten, werden bei der Staatsanwaltschaft verwahrt. Zu den Akten sind sie erst zu nehmen, wenn die Besorgnis der Gefährdung entfällt. Wurde dem Zeugen eine Beschränkung seiner Angaben nach Absatz 2 Satz 1 gestattet, veranlasst die Staatsanwaltschaft von Amts wegen bei der Meldebehörde eine Auskunftssperre nach § 51 Absatz 1 des Bundesmeldegesetzes, wenn der Zeuge zustimmt.

Auch hier hat sich jedoch das Vorgehen zwischen Polizei und Justiz – weder inhaltlich noch formal - standardisiert.


Fazit:
Auch wenn der Gesetzgeber die Schwelle für den sogenannten kleinen Zeugenschutz gesenkt hat, stellt er doch immer noch eine Ausnahme von der Regel dar, die an Bedingungen geknüpft ist. Im Verhältnis zu dem ansonsten sehr sensibel behandelten Schutz der Daten der Bürgerinnen und Bürger ein skandalöses Relikt, da es grundsätzlich keine Erforderlichkeit der Übermittlung der vollständigen Personaldaten von Zeugen an Rechtsanwälte mit der Gefahr der Weitergabe an Tatverdächtige oder Dritte gibt.

Die gegenwärtige Praxis hat, vor dem Hintergrund mangelnder Mitwirkung vieler Zeugen, erhebliche negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems und somit des Rechtsstaates insgesamt.

Aus Sicht des BDK LV Berlin müssen die in anderen Lebensbereichen umfangreich geltenden Datenschutzregeln durch den Gesetzgeber schleunigst auch auf den Schutz von Zeugen im Strafverfahren ausgeweitet werden.

Der Landesvorstand, 1. März 2023