Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

27.06.2018

Am 19.06.2018 veröffentlicht das Bundesverfassungsgericht mit Pressemitteilung Nr. 48/2018 den Beschluss der erfolglosen Verfassungsbeschwerde zur Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst.
Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Der Beschluss vom 09. Mai 2018 (1 BvR 1884/17) lautet:

„Es verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes, dass die Fachgerichte einen Anspruch ehemaliger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes auf eine höhere Zusatzrente verneint haben, obwohl das umfassend reformierte Zusatzversorgungsrecht in einzelnen Elementen gegen das Gleichheitsgebot verstößt. Nach den fachgerichtlichen Entscheidungen haben es die Tarifvertragsparteien zwar unterlassen, einen 2007 festgestellten Verstoß vollständig zu beseitigen. Die Fachgerichte dürfen ihnen jedoch, bevor ein Zahlungsanspruch gewährt wird, letztmals die Möglichkeit geben, dies nachzuholen. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde mit heute veröffentlichtem Beschluss nicht zur Entscheidung angenommen und mehrere weitere Verfassungsbeschwerden in ähnlich gelagerten Fällen aus denselben Gründen zurückgewiesen. Der Zeitrahmen der abermaligen Nachbesserung durch die Tarifvertragsparteien ist aus rechtsstaatlichen Gründen allerdings kurz zu bemessen.

Sachverhalt:

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erhalten nach Renteneintritt regelmäßig eine Zusatzversorgung über die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Die Höhe der Versorgung beruht auf einem Tarifvertrag, dessen Inhalt die VBL in ihre Satzung übernimmt. Im Jahr 2002 führten die Tarifvertragsparteien ein neues, beitragsorientiertes Berechnungssystem ein. Bis dahin erworbene Ansprüche wurden durch Startgutschriften in das neue System übertragen. Bei rentennahen Versicherten werden die Startgutschriften weitgehend nach altem Recht ermittelt. Dagegen wird für die Startgutschriften der etwa 4,2 Millionen rentenfernen Versicherten ein vereinfachtes und für die Versicherten weniger günstiges Berechnungsverfahren verwendet; dieses enthält ein sogenanntes Näherungsverfahren, das pauschal von 45 Versicherungsjahren ausgeht. Der Bundesgerichtshof beanstandete im Jahr 2007 das Berechnungsverfahren, verzichtete aber auf eine abschließende Bewertung des Näherungsverfahrens. Zur daraufhin vorgenommenen Änderung des Berechnungsverfahrens entschied er im Jahr 2016, Personen mit ausbildungsbedingt spätem Diensteintritt würden weiterhin unangemessen benachteiligt. Die Berechnung der Startgutschriften sei daher nicht verbindlich.

Die 1947 geborene Beschwerdeführerin gehört zu den rentenfernen Versicherten. Sie verlangte im Ausgangsverfahren die Zahlung einer höheren Zusatzrente nach altem Recht und hilfsweise die Feststellung, dass die Berechnung der Zusatzrente nach neuem Recht unverbindlich ist. Das Oberlandesgericht gab dem Hilfsantrag statt, wies die Zahlungsklage aber - wie schon das Landgericht - ab. Der Bundesgerichtshof wies die Revision der Beschwerdeführerin zurück. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sind nicht verletzt. Die Entscheidung der Fachgerichte, ein letztes Mal davon abzusehen, die VBL zur Zahlung einer höheren Zusatzrente an rentenferne Versicherte zu verurteilen, ist mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes in diesem Fall vereinbar. Der Bundesgerichtshof und das Oberlandesgericht haben zwar wiederholt entschieden, dass das Verfahren zur Berechnung der Zusatzrente gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Rentenferne Versicherte und damit auch die Beschwerdeführerin erhalten somit weiterhin eine Zusatzrente, deren Höhe nach Maßgabe verfassungswidriger Regelungen berechnet worden ist. Allerdings haben die Gerichte die Berechnung für unverbindlich erklärt und in den Entscheidungsgründen die Tarifvertragsparteien ausdrücklich aufgefordert, zeitnah ein verfassungskonformes Berechnungsverfahren zu schaffen. Zudem haben sie in Aussicht gestellt, andernfalls die VBL zur Zahlung einer höheren Zusatzrente zu verurteilen.

Das ist in der vorliegenden besonderen Fallkonstellation vertretbar. Die Fachgerichte wollen einer Entscheidung der Tarifvertragsparteien, denen grundsätzlich die Ausgestaltung des Zusatzversorgungsrechts obliegt, nicht vorgreifen. Allerdings geht dies inzwischen seit geraumer Zeit mit einer Benachteiligung der rentenfernen Versicherten einher. Die Fachgerichte haben den Tarifvertragsparteien deshalb letztmalig die Möglichkeit eröffnet, ein in jeglicher Hinsicht mit dem Grundgesetz vereinbares Berechnungsverfahren der Zusatzversorgung zu schaffen; durch dieses müssen nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungen dann auch rückwirkend beseitigt werden. Der zeitliche Umfang der dafür vom Oberlandesgericht angesetzten „nicht mehrjährigen Prüfungsphase“ ist aus rechtsstaatlichen Gründen kurz zu bemessen.

2. Ob das Berechnungsverfahren darüber hinaus entgegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Frauen gegenüber Männern ungleich behandelt, weil typisch weibliche Erwerbsbiografien mit Kindererziehungszeiten nach dem Näherungsverfahren regelmäßig zu einer geringeren Zusatzrente führen, ist in den angegriffenen Entscheidungen nicht entscheidungserheblich geworden. Zwar ist es für Frauen, die bislang tatsächlich weit häufiger als Männer zur Kindererziehung ihre Arbeitstätigkeit unterbrechen, strukturell nachteilig, wenn bei der Berechnung der Zusatzrente eine fiktive Rente für einen Zeitraum von 45 Pflichtversicherungsjahren zugrunde gelegt wird. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass dieser strukturell nachteilige Effekt des Näherungsverfahrens durch andere Rechenfaktoren beseitigt wurde. Ob im Ergebnis eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vorliegt, werden die Fachgerichte in künftigen Entscheidungen über Zusatzrenten zu prüfen haben.“

Im Jahr 2002 wurde die Zusatzversorgung für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes grundlegend reformiert. Das bisherige Gesamtversorgungssystem wurde auf ein Versorgungspunktemodell umgestellt.

Schon 2007 hatte der Bundesgerichtshof in seinem ersten Grundsatzurteil zu den rentenfernen Startgutschriften die Berechnung nach § 18 Abs. 2 Betriebsrentengesetz beanstandet, woraufhin sich die Tarifvertragsparteien mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 5 zum Tarifvertrag Altersvorsorge (ATV) vom 30. Mai 2011 auf eine Neuregelung verständigte. Auch diese Neuregelung hatte vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand (Urteil vom 9. März 2016 – IV ZR 9/15).

In einer Pressemitteilung bezieht die VBL wie folgt Stellung:

„Rentenferne Startgutschriften: Tarifpartner einigen sich auf Eckpunkte einer Neuregelung.
Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes haben sich am 8. Juni 2017 auf die Eckpunkte für eine Neuregelung zur Berechnung der Startgutschriften für rentenferne Versicherte verständigt. Die Neuregelung war notwendig geworden, da der Bundesgerichtshof die bisherige Regelung im März 2016 für unwirksam erklärt hat.

 
Zum Hintergrund:
Die Zusatzversorgung für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wurde im Jahr 2002 grundlegend reformiert. Das bisherige Gesamtversorgungssystem wurde auf ein Versorgungspunktemodell umgestellt. Mit den Startgutschriften wurden die im Gesamtversorgungssystem erreichten Anwartschaften zum 31. Dezember 2001 berechnet und in das neue Versorgungspunktemodell überführt. Eine Startgutschrift für rentenferne Versicherte erhielt grundsätzlich, wer am 1. Januar 2002 pflichtversichert war und das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Die Berechnung erfolgte auf der Grundlage des § 18 Abs. 2 Betriebsrentengesetz.
 
Im Jahr 2007 hatte der Bundesgerichtshof in seinem ersten Grundsatzurteil zu den rentenfernen Startgutschriften die Berechnung nach § 18 Abs. 2 Betriebsrentengesetz beanstandet. Daraufhin hatten sich die Tarifvertragsparteien mit dem Änderungstarifvertrag Nr. 5 zum Tarifvertrag Altersversorgung (ATV) vom 30. Mai 2011 auf eine Neuregelung verständigt. Diese wurde in die VBL-Satzung übernommen (17. Satzungsänderung vom 30. November 2011). Auch die Neuregelung hatte vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand (Urteil vom 9. März 2016 – IV ZR 9/15).
 
Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes haben zeitnah nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs Verhandlungen aufgenommen. Nach mehreren Verhandlungsrunden haben sie sich am 8. Juni 2017 auf die Eckpunkte für eine verfassungskonforme Neuregelung verständigen können.

 
Wie sehen die Eckpunkte der Neuregelung aus?

Bisher erhielt jeder rentenferne Versicherte pro Jahr der Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung einen Anteil von 2,25 Prozent der für ihn ermittelten höchstmöglichen Voll-Leistung. Nach der Neuregelung soll dieser Faktor in Abhängigkeit vom Beginn der Pflichtversicherung verändert werden. Zur Berechnung des neuen Faktors wird zunächst die Zeit vom erstmaligen Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ende des Monats ermittelt, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird. Anschließend werden 100 Prozent durch diese Zeit in Jahren geteilt (100 Prozent / Zeit in Jahren). So erhält man den neuen Faktor als Prozentwert, der zur Ermittlung der anteiligen Voll-Leistung maßgebend ist. War ein Versicherter beispielsweise 23 Jahre alt, als er erstmals im öffentlichen Dienst beschäftigt wurde, erhält er für jedes Versicherungsjahr 2,38 Prozent seiner Voll-Leistung. Der Faktor beträgt mindestens 2,25 und höchstens 2,5 Prozent pro Pflichtversicherungsjahr.
 
Wann wird die Neuregelung umgesetzt?

Die Tarifvertragsparteien werden die Einzelheiten zur Neuberechnung der Startgutschriften für rentenferne Versicherte zeitnah in einem Änderungstarifvertrag zum ATV umsetzen. Sobald der Änderungstarifvertrag vorliegt, wird die VBL-Satzung entsprechend angepasst. Anschließend werden wir alle rund 1,7 Millionen rentenfernen Startgutschriften auf der Grundlage der Neuregelung überprüfen. Für die technische Umsetzung der Neuregelung werden wir eine gewisse Vorlaufzeit benötigen. In welchem Umfang sich die Startgutschriften für die rentenfernen Versicherten im Einzelfall erhöhen, können wir erst nach Festlegung der Einzelheiten durch die Tarifvertragsparteien und nach der technischen Umsetzung verbindlich mitteilen. Alle betroffenen Startgutschriften werden automatisch überprüft. Ein gesonderter Antrag der Versicherten ist nicht erforderlich.
 
Die Tarifeinigung steht noch unter dem Vorbehalt, dass die Gremien der Tarifvertragsparteien dem Ergebnis zustimmen.“


In den Geltungsbereich dieser Neuregelung fallen lt. ATV (Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorge der Beschäftigten des öffentlichen Diensts) Anlage 1 der TVöD, TVAöD, TV-L u.a. Ausgenommen sind das Land Bremen, die Freie Hansestadt Hamburg u.a.

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