In der Sackgasse?

01.11.2015

Innenminister Reinhold Gall (SPD) reagiert auf Defizite in der Polizei. +++ Ein Kommentar des baden-württembergischen BDK-Vorsitzenden Manfred Klumpp zur aktuellen Situation der Polizei in Baden-Württemberg.
In der Sackgasse?
Manfred Klumpp, BDK-Vorsitzender in Baden-Württemberg

Es ist kein Geheimnis, dass Personalkürzungen und Sparmaßnahmen bei einem gleichzeitigen qualitativen und quantitativen Aufgabenzuwachs die baden-württembergische Polizei seit Jahren an ihre Belastungsgrenze und Leistungsfähigkeit heran geführt haben.

Bereits beim Blick auf die Polizeidichte, wo sich Baden-Württemberg im Bundesvergleich am unteren Ende der Skala wiederfindet, sind die personellen Defizite erkennbar. So wären nach Daten des Statistischen Bundesamtes bereits 2011 rund 2.000 zusätzliche Vollzeitäquivalente notwendig gewesen, um auf die durchschnittliche Polizeidichte der Bundesländer (ohne die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen) zu kommen. Und auch 2014 „glänzt“ Baden-Württemberg weiterhin als Schlusslicht im Vergleich der Bundesländer und einem entsprechenden zusätzlichen Personalbedarf.[1]

U.a. mit dem Ziel der Kompensation von 1.000 Stellen an zusätzlichem Personalbedarf hatte der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall nach seinem Amtsantritt 2012 eine Organisationsreform initiiert. Die aus der Polizeiführung erarbeiteten Vorschläge mündeten zum 01.01.2014 in einer grundlegenden Neuorganisation der Polizei.

Nunmehr, bald zwei Jahre nach Umsetzung der Reform läuft Vieles immer noch nicht rund, wurden vorhandene Probleme in die „Neue Polizeiwelt“ übernommen und neue Problemfelder sind erwachsen. Aus Sicht der polizeilichen Praxis konnte insbesondere das verfolgte Ziel einer personellen Entlastung nicht annähernd erreicht werden.

Vor dem Hintergrund zunehmender Gefahren des islamistischen Terrorismus und steigenden Wohnungseinbruchsdiebstählen hat die Landesregierung im ersten Halbjahr noch aus Vorjahren geplante weitere Stellenstreichungen zurückgenommen und zwei Sonderprogramme mit Neustellen im Vollzugs- und Nichtvollzugsbereich auf den Weg gebracht. Nach 800 im Jahre 2015 sollen die Einstellungszahlen im Jahre 2016 von zunächst 900 zwischenzeitlich auf 1.100 steigen; für 2017 und 2018 ist eine Einstellungsoffensive mit jeweils 1.400 Neueinstellungen geplant. Ein weiteres Sonderprogramm mit 216 Neustellen im Nichtvollzugsbereich stand im Oktober zur Beschlussfassung durch das Landeskabinett an[2].

Damit hat Minister Gall unbestritten etwas auf den Weg gebracht, um über Jahre hinweg aufgebaute Defizite zu korrigieren. Sein Dilemma ist nur, dass die Wirkung dieser Personalverstärkungen erst nach einer mehrjährigen Ausbildungszeit zum Tragen kommen kann. Dabei ist auch noch völlig offen, ob angesichts geburtenschwacher Jahrgänge und einer florierenden Wirtschaft überhaupt noch ausreichend geeignete Bewerber zur Verfügung stehen werden.

 

Alle Bewerberpotentiale ausschöpfen

Auch wenn im aktuellen „trendence Schülerbarometer 2015“[3] jeder Zehnte der dabei bundesweit rund 13.000 befragten Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 13 an allgemeinbildenden Schulen wie im Vorjahr die Polizei als beliebtesten Arbeitgeber angeben und ihr damit erneut den Spitzenplatz sichern, und auch wenn die Bewerberzahlen nach Ministeriumsangaben aktuell rund 30% über denen des Vorjahres liegen sollen2, dürfte es angesichts von Kürzungen bei der Eingangsbesoldung des gehobenen Dienstes, einer Reduzierung von fünf auf nunmehr landesweit zwei Ausbildungsstandorte im Rahmen der 2014 erfolgten Polizeireform sowie einer besonders im Ländle wachsenden und um Nachwuchs ringenden Wirtschaft schwer werden, die möglichen Ausbildungsstellen zu besetzen.

Dabei leistet man es sich seit Jahren, auf einen Teil von Interessenten zu verzichten, indem man einschlägig Vorgebildeten keinen direkten, sicheren Zugang zur Kriminalpolizei nach der Ausbildung ermöglicht und verzichtet lieber auf eine Einstellung. Dies bedingt dann auch, dass man auf spezifisches, für die Ermittlungsführung notwendiges oder förderliches Fachwissen verzichtet. Stattdessen wird versucht, diesen Verzicht polizeiintern durch aufwendige Fortbildungsmaßnahmen zu kompensieren.

 

Ausbildung vs. Fortbildung

Sollte die Hürde ausreichend qualifizierter Bewerber für die Polizei bei steigenden Einstellungszahlen und geburtenschwachen Jahrgängen zu meistern sein, so stellen die Ausbildungskapazitäten die nächste Herausforderung dar. Mit der Polizeireform 2014 wurde auch die Aus- und Fortbildung organisatorisch und räumlich umfassend neu aufgestellt. Anspruch und faktische Leistungsfähigkeit klaffen noch auseinander, so dass die Hochschule für Polizei mit ihrem Institutsbereich für Ausbildung und Training mit steigenden Einstellungszahlen vor enormen Hausforderungen steht und Einschnitte bei den zeitlichen Abläufen und den Inhalten der Ausbildung wahrscheinlich machen.

Der erhöhte Ausbildungsbedarf für zusätzliche Neu-Einstellungen trifft dabei angesichts der anstehend hohen Zahl an Pensionierungen auf einen enormen Fortbildungsbedarf für den personellen Nachersatz. Der verändert sich auch nicht, wenn aktuell Dienststellen aufgrund von Personalengpässen vielfach Fortbildungsmaßnahmen zurückstellen oder reduzieren. Da aber die Ausbildung ebenso wie der Hochschulbereich nicht disponibel sind, liegen bei begrenzten räumlichen und personellen Ressourcen spürbare Leistungseinschränkungen der Angebotsseite im Bereich der Fortbildung nahe.

Und dabei leistet man es sich seit Jahren auch hier, mit dem Bachelorstudium an der Hochschule für Polizei die Studierenden zu Generalisten unabhängig von einer späteren Verwendung auszubilden. Dies bedeutet, dass bei einer Verwendung bei der Kriminalpolizei nach dem Studium zunächst erst einmal kriminalpolizeiliches Basiswissen vermittelt werden muss. Angesichts der allgemein verbreiteten Personalknappheit kommt es zunehmend dazu, dass Dienststellen diese mehrmonatigen Fehlzeiten nicht mehr kompensieren können und junge Kolleginnen und Kollegen erst mit erheblich zeitlicher Verzögerung diese vorgeschriebene Grundqualifizierung für die Kriminalpolizei absolvieren.

 

Nachwuchsgewinnung für die Kriminalpolizei

Genau diese Praxis ist es dann auch, die eine sichere Nachwuchsgewinnung für die Kriminalpolizei erschwert. Während Studienabsolventen bei der Schutzpolizei unmittelbar nach ihrem Studium in ihre Organisationseinheiten eingebunden werden und teilweise auch schon herausgehobene Aufgaben wahrnehmen können, erleben sie sich bei der Kriminalpolizei zunächst wieder als Berufsanfänger, die einen zusätzlichen Qualifizierungsbedarf haben und damit Qualifizierungszeit aufbringen müssen, was vielfach schlechtere Beförderungsperspektiven nach sich zieht.

Angesichts der beliebigen Austauschbarkeit von Beförderungsstellen der Schutz- und Kriminalpolizei, der faktischen Dominanz von Führungs- gegenüber Sachbearbeiterkarrieren und dem reformbedingten umfassenden Wegfall von Führungsfunktionen bei der Kriminalpolizei fehlt dann selbst eine mittel- und langfristige Perspektive für eine verlässliche Berufsentwicklung in Aufgaben der Kriminalpolizei.

Es ist wohl ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts, dass sich zusätzliche Qualifizierungen und die Bearbeitung von Schwerkriminalität in ihren unterschiedlichen Facetten und den ihr immanenten Besonderheiten bei der Ermittlungsführung in einer günstigeren Besoldungsstruktur wider spiegelten und damit auch Anreiz war, sich diesen Herausforderungen zu stellen.

Es war zuletzt der SPD-Innenminister Frieder Birzele, der in den 90er-Jahren mit dem Besoldungsstrukturprogramm die kriminalpolizeilichen Aufgabenfelder würdigte und alle dem gehobenen und höheren Dienst zuordnete. Mit dem in den Folgejahren einsetzenden Trend zum Generalisten gab es regelmäßig strukturelle, durchaus berechtigte Verbesserungen in schutzpolizeilichen Aufgabenfeldern, die andererseits für die Kriminalpolizei nicht im gleichen Umfang erkennbar waren.

 

Sofortmaßnahmen sollen kurzfristig greifen

Mit dem Kabinettsbeschluss im Oktober für 216 Neustellen im Nichtvollzugsbereich sollen Polizeivollzugsbeamte von Nichtvollzugsaufgaben entlastet werden und die operative Basis verstärken. Anders als bei Neu-Einstellungen für den Vollzugsbereich können diese Stellen in entsprechenden Aufgabenfeldern und angemessener Bewertung, über die allerdings noch keine konkreten Informationen vorliegen, grundsätzlich sehr zeitnah wirken.

Wenn diese Maßnahme dann tatsächlich auch Wirkung entfalten soll, wird es eine besondere Herausforderung für die Dienststellenleitungen und die Personalvertretungen sein, dadurch frei werdende Personalressourcen an die operative Basis zu bringen.

Als weitere Sofortmaßnahme sollen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, um die bislang obligatorisch in Freizeit abzubauenden Mehrarbeitsstunden finanziell auszugleichen. Damit bekommt die Work-Life-Balance vielfach eine Schieflage und die Wirkung wird daher auch von der Akzeptanz der Beschäftigten abhängen, die bei ständig wachsenden Belastungen dann auf Regenerations- und Erholungsphasen verzichten würden. Hier sind auch angesichts eines baden-württembergischen Spitzenplatzes von ohnedies immer noch 41 Wochenarbeitsstunden enge Grenzen gesetzt.

Die Priorisierung polizeilicher Aufgaben und eine Aufgabenkritik sollen für personelle Entlastung sorgen und freie Kapazitäten fördern. Bereits seitens Innenminister Gall wurden hierbei die Intensität der Geschwindigkeitsüberwachung und die polizeiliche Begleitung von Schwertransporten als Beispiele genannt. Die Polizeipräsidien wurden zwischenzeitlich bereits aufgefordert, dem Ministerium entsprechende Vorschläge zu machen.

Der Spagat zwischen „Kür und Pflicht“ wird schwierig werden, zumal z.B. bei der Schwertransportbegleitung damit auch Einnahmen verbunden sind, welche die Präsidien brauchen, um ihre Einnahmeverpflichtungen für einen ohnedies knappen Finanzhaushalt zu erfüllen.

 

Vertrauen zurück gewinnen

Mit der der aktuellen Flüchtlingskrise wird auch die Polizei, die seit Jahren bereits an der Belastungsgrenze ist und mit der Vielzahl anstehender Pensionierungen auch vor einem personellen Umbruch steht, vor neue, immense, nur schwer zu erfüllende Herausforderungen gestellt.

Dies steht vor dem Hintergrund einer 2014 umgesetzten Polizeireform, deren Nutzen landesweit vielfach immer noch angezweifelt wird, da Verbesserungen selten wahrnehmbar sind, Personaldefizite im Vollzugs- und Nichtvollzugsbereich erkennbar sind und viele Abläufe komplizierter und aufwendiger wurden.

Die nun stattfindende Evaluation dieser Reform findet augenscheinlich ohne die Beteiligung der Personal- und Berufsvertretungen oder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter statt. Lediglich aus Medienberichten[4] ist zu erfahren, dass augenscheinlich bereits seit Sommer d.J. im Rahmen eines Monitorings geprüft werde, ob die Reformziele erreicht wurden, und dass man ebenso einen Verwaltungswissenschaftler mit der Evaluation beauftragt habe, dessen Bericht bereits zum Jahresende 2015 vorliegen soll[5].

Es ist auch nicht hilfreich, wenn die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) die Abschaffung der besonderen Altersgrenze im Polizeivollzugsdienst in die Diskussion bringt[6]. Damit verkennt sie die besonderen Belastungen des Polizeidienstes, die auch durch eine insgesamt in der Bevölkerung gestiegen Lebenserwartung nicht kompensiert werden können. Fast zeitlich zu dieser Forderung, der Innenminister Gall umgehend eine Absage erteilt hat, hat die WHO eine Studie veröffentlicht, wonach zwar die Lebenserwartung steige, eine längere Lebenszeit aber nur zu oft mit erheblichen Beeinträchtigungen einhergehe[7].

Weitere Unsicherheiten ergeben sich aus der derzeit anlaufenden Dienstpostenbewertung, die wohl weniger von der eigentlichen Tätigkeit ausgehen wird und diese bewertet, sondern die vorhandenen Beförderungsstellen verteilen und festschreiben wird. Damit könnte dann die Frage „Gleiche Arbeit – gleicher Lohn“ wieder Bedeutung gewinnen, die zu Beginn der 90er-Jahre zu vielfachen Großdemonstrationen der Polizei führten und am Ende das damalige Besoldungsstrukturprogramm stand.

 

Polizei in der Sackgasse?

Kommt man zu der Ausgangsfrage zurück, so muss man dies grundsätzlich mit einem Ja beantworten. Viele sich seit langem abzeichnende Entwicklungen wurden ignoriert oder durch gegenläufige Maßnahmen verschärft. Mit der aktuellen Flüchtlingskrise wurde dies nun sehr schnell und sehr deutlich augenfällig und rückte die Polizei in den Fokus der Politik, wo Innere Sicherheit in den vergangenen Jahren vielfach primär immer als Kostenfaktor und nicht als zentrale staatliche Aufgabe für unsere Bürgerinnen und Bürger betrachtet wurde.

Die Polizei hat -noch- die Kraft, aus dieser Sackgasse zu kommen. Trotz aller Widrigkeiten leisten Polizei- und KriminalbeamtInnen engagiert ihren Dienst und gehen an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus. Sie bedürfen hierzu aber der Anerkennung und Unterstützung der Politik und müssen mit dem praktischen Wissen der Abläufe und Bedürfnisse in die dazu anstehenden Veränderungsprozesse einbezogen werden, um spürbare Wirkung zu erzielen und Akzeptanz zu schaffen.

 

 
 

[1] Datenbasis: Statistische Ämter des Bundes und der Länder

[2] Stuttgarter Zeitung vom 09.10.2015, Flüchtlingskrise stresst Polizei - Innenminister Gall schafft neue Stellen http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.fluechtlingskrise-stresst-polizei-innenminister-gall-schafft-neue-stellen.6ae96b68-67d7-4a6d-84f9-fb31b875e7e4.html 

[3] https://www.schuelerbarometer.de/arbeitgeber/ranking.html

[4] Die Welt, 25.06.2015 - Nachbesserungen an Polizeireform gefordert, http://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article143027595/Nachbesserungen-an-Polizeireform-gefordert.html

[5] Landtagsdrucksache 15/7269 - Auftragsvergabe zur Evaluation der Polizeireform, http://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP15/Drucksachen/7000/15_7269_D.pdf

[6] z.B. Badische Zeitung, 28.09.2015 - Öney erwägt Anhebung der Pensionsgrenze für Polizei, http://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/oeney-erwaegt-anhebung-der-pensionsgrenze-fuer-polizei--111992387.html

[7] z.B. BILD, 30.09.2015 - WHO-Bericht übers Altern - Ist 70 das neue 60?, http://www.bild.de/ratgeber/gesundheit/who/bericht-ist-70-das-neue-60-42783170.bild.html