Ist der Strafverfolgungszwang für Internetstraftaten noch zeitgemäß?

19.04.2023

Meiner bescheidenen Meinung nach müssen wir uns die Frage stellen, ob der Strafverfolgungszwang in Deutschland für Internetstraftaten noch zeitgemäß ist. Ich bin mir bewusst, dass diese Frage kriminalpolitisch sehr kritisch gesehen wird und ein grundlegendes Prinzip in Frage stellt. Mit diesem Reformgedanken dürfte ich in unserer Republik allerdings nicht der Einzige sein.
Fathromi Ramdlon - Pixabay

Eines vorweg: Der Strafverfolgungszwang - geregelt in §163 StPO bzw. § 152 StPO - soll nicht bei schweren Straftaten aus dem Katalog des § 100a Strafprozessordnung (StPO) neu gestaltet werden. Für diese Katalogtaten soll es weiterhin den Strafverfolgungszwang in jedem Fall geben, für alle anderen Straftaten ist eine Neuregelung dringend geboten.


Die meisten Leser dürften es wissen, aber nur um auf Nummer sicher zu gehen: Die StPO regelt als Bundesgesetz das Strafverfahren in Deutschland und ist Teil des formellen Strafrechts. Die StPO kommt bei repressiven Maßnahmen zur Geltung. Als die StPO am 01.10.1879 in Kraft trat, war Kaiser Wilhelm II. an der Macht. Seitdem hat die StPO viele Novellen erfahren und wurde immer wieder an aktuelle gesellschaftliche, technische und andere Entwicklungen angepasst. Anpassungen an das „Neuland“ (Internet) sind zwar in der StPO in homöopathischen Dosen erkennbar, hinken der rasanten technischen Entwicklungen dennoch ständig hinterher. Das war so und wird immer so bleiben. Vor die Lage kommen, geht halt nicht – auch wenn einige Führungskräfte diesen Spruch immer noch bemühen.


Jeder Mensch – sofern technisch in der Lage und entsprechend kriminell motiviert - kann von jedem Ort der Welt eine digitale Straftat gegen einen in Deutschland ansässigen Menschen begehen. Einzige technische Voraussetzung ist der Zugang zum Internet und ein wenig technisches Geschick. Digitale Straftaten können im Gegensatz zu analogen Straftaten sehr stark skalieren, was letztendlich bedeutet, dass durch immer mehr Rechentechnik und automatisierten Programmen immer mehr Straftaten generiert werden können. Leider skaliert die Vorgangsbearbeitung in der Polizei in Deutschland nach meiner Wahrnehmung nicht. Wie auch wenn immer noch gefaxt wird? Vielmehr stehen polizeiliche Anwender vor einer Vielzahl von polizeilichen Anwendungen, wie z. B. PIAV, EVA, ZEUS, EIS, eVBS, PLX und eFBS gegenüber, bei dem am Ende keiner den vollen Durchblick hat, geschweige denn alle Abkürzungen sicher aussprechen und die Anwendungen sicher bedienen kann.


Was spricht für die Abschaffung des Strafverfolgungszwang für Internetstraftaten?

Es gibt viele Gründe. Hier sind einige davon:


1. Grund:

Der Strafverfolgungszwang ist für die deutsche Polizei bei Onlinestraftaten eine Art DDoS-Angriff – sprich die Polizei wird mit einer Flut an Straftaten aus dem Internet bzw. durch die Anzeigepflicht bei Bekanntwerden im Dienst überlastet und kommt mit den einzelnen Fällen gar nicht mehr hinterher -egal wer es anzeigt. Der gesamte Behördenapparat (Polizei / Staatsanwaltschaft) wird gelähmt, weil der überwiegende Teil in Papierform in einer Ermittlungsakte dokumentiert werden muss. Ein prominentes Beispiel hierzu hatten wir vor Kurzem in Berlin.


2. Grund:

Die Zahlen der erfassten polizeilichen Fälle aus der PKS und die Einstellungszahlen der Justiz belegen faktisch, dass sowieso nicht jedes Delikt bis zum Ende verfolgt und angeklagt werden kann, sondern ein Großteil der Verfahren eingestellt wird. Arbeit für den Papierkorb könnte man sagen. Viel Zeit und Ressourcen verschwendet. Für? Nichts! Außer dass viele Bäume sterben mussten und man versucht hat einen Anfangsverdacht zu erhärten.


3. Grund:

Die Gründe für die Einstellungen der Staatsanwaltschaft sind vielfältig. Ein wichtiger Grund für Einstellungen ist der Ressourcenmangel bei der Polizei, weil nicht jede Spur bis zum Ende verfolgt werden kann, denn es geht häufig in Länder, bei denen eine justizielle Rechtshilfe außer Verhältnis zum Nutzen steht bzw. es gar keine Erfahrungen mit justizieller Rechtshilfe gibt. Häufiges sind es ausländische Bankkonten, denen man nicht weiter nachgeht, weil der Aufwand nicht zu dem eingetretenen Schaden im Verhältnis steht.


4. Grund:

Beschlagnahmte Foren aus der Vergangenheit, sei es aus dem Drogenmilieu, Cyberbereich oder mit Darstellungen des sexuellen Missbrauchs haben gezeigt, dass mehrere Tausend Nutzer pro Forum aus allerlei Ländern aktiv waren oder es immer noch sind und nur den Nicknamen gewechselt haben. Polizeidienststellen, die sich solch ein Forum zur Brust nehmen, fragen sich natürlich vorher wer die 30, 40 oder 50 Tausend Forennutzer identifizieren und abarbeiten soll? Einige Ermittler gehen pragmatisch an die Sache, gründen eine bundesweit agierende Ermittlungsgruppe und nehmen sich „nur“ die Administratoren und sog. High-Value-Targets vor. Der Rest bleibt meistens liegen. Ein schlechtes Gewissen bleibt trotzdem bei einigen Kollegen, da aufgrund der schieren Masse nicht alles abgearbeitet werden konnte und nicht jeder einzelne Nutzer identifiziert werden konnte.


5. Grund:

Nach der aktuellen Rechtslage in Deutschland ist der Ermessensspielraum der Polizei im Falle einer Anzeigeerstattung, die auch anonym erfolgen kann, auf Null reduziert. Was machen wir also mit anonymen angezeigten Onlinestraftaten ohne bekannten Zeugen/Geschädigten, ohne bekannten Tatort, ohne bekannten Beschuldigten aber mit einer Straftat? Bei Straftaten, die dem Weltrechtsprinzip unterliegen (§ 6 StGB) gilt das Strafrecht sogar unabhängig vom Recht des Tatorts, für bestimmte Taten, die im Ausland begangen werden. Hierzu zählt z. B. die Verbreitung von pornographischen Inhalten nach §§ 184a, 184b und § 184c. Die deutsche Polizei soll also wirklich Weltpolizei sein? Zeigt man anonym genügend Webseiten mit Darstellungen des sexuellen Missbrauchs bei der deutschen Polizei an, muss sie ermitteln und wird mit Strafanzeigen überflutet und kommt nicht mehr hinterher. Na herzlichen Glückwunsch auch – toll gemacht lieber Gesetzgeber. Ist das wirklich sinnvoll und im Sinne der Norm? Haben sich die Menschen, die diesen Paragraphen ins Leben gerufen haben, wirklich Gedanken über das Ausmaß der heute angezeigten Straftaten gemacht? Ich wage es zu bezweifeln.


Bei all den aufgezählten Gründen könnten nun geneigte Leser sagen, dass das doch nicht sein kann. Kein Strafverfolgungszwang mehr? Das ist der Untergang von Deutschland und des deutschen Strafrechts. Die Polizei macht nichts mehr, wenn der Bürger eine Anzeige erstattet. Der Staat zeigt Schwäche und die Mafia rollt über Deutschland.


Zur Beruhigung: Ich glaube nicht, dass Deutschland untergehen wird. Schon heute werden eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren eingestellt und es kommt am Ende nichts herum.


Es wird allerhöchste Zeit, dass der Strafverfolgungszwang reformiert und die Kriminalpolizei entlastet wird. So kann und darf es nicht weitergehen.


Stephan Gäfke

Quellen:
https://www.golem.de/news/internetwache-mann-soll-polizei-mit-anzeigenflut-gestoert-haben-2304-173443.html

https://www.bundestag.de/resource/blob/823410/c84f89d5f3edf3c3220f5412dd3e39aa/WD-7-132-20-pdf-data.pdf