Keine Palantire für die Polizei? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Betrieb polizeilicher Analyseplattformen

03.03.2023

der kriminalist, Editorial 3/2023
Arek Socha - Pixabay

Mit seinem Urteil vom 16.02.2023 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die in Hamburg und Hessen bestehenden gesetzlichen Grundlagen für den Betrieb von Analyseplattformen verfassungswidrig sind. (1 BvR 1547/19, 1 BvR 2634/20).

Entscheidungsgrundlage waren zwei Verfassungsbeschwerden, mit denen sich u. a. die Gesellschaft für Freiheitsrechte, die Humanistische Union sowie der Verband der Internetwirtschaft gegen die landesgesetzlichen Ermächtigungen in Hamburg und Hessenzur automatisierten Datenauswertung wandten. In den von Prof. Dr. Tobias Singelnstein und Jun.-Prof. Dr. Sebastian Golla verfassten Beschwerdeschriften wurde wesentlich geltend gemacht, dass die Regelungen des § 25 a des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) sowie der § 49 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung bei der Polizei (PolDVG) u. a. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und, soweit betroffen, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) und das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) verletzen.

Im Unterschied zur hamburgischen Regelung, die mangels bisheriger Anwendung für nichtig erklärt wurde, entschied der 1. Senat, dass die gesetzliche Vorschrift im hessischen Polizeigesetz mit der Verfassung unvereinbar ist und ordnete eine befristete Fortgeltung bis zum 30.09.2023 an. Grund hierfür war die Bewertung, dass eine Nichtigerklärung und damit sofortige Ungültigkeit den „Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist“.

An die Entscheidung zur Fortgeltung wurden Bedingungen geknüpft, die einzuhalten sind, bis eine verfassungsgemäße Ausgestaltung der Eingriffsermächtigung hergestellt ist, ohne aber darin eine gesetzliche Neuregelung zu präjudizieren. So wurde festgelegt, dass künftig konkrete Tatsachen den Verdacht begründen müssen, dass eine besonders schwere Straftat nach § 100 b Abs. 2 StPO (bisher § 100 a Abs. 2 StPO) begangen wurde und mit weiteren gleichgelagerten Straftaten zu rechnen ist, die Leib, Leben oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährden.

Bezüglich der verwendeten Daten legte der 1. Senat ferner einschränkend fest, dass bei der Analyse keine Informationen aus Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachung, Verkehrsdatenabfrage, Observationen oder dem Einsatz von Verdeckten Ermittlerinnen und Ermittlern oder Vertrauenspersonen verwendet werden dürfen.
Mit dem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die automatisierte Datenauswertung zur vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten zulässig ist. Es hat zugleich die verfassungsrechtlichen Hürden für eine Nachbesserung bestehender gesetzlicher Normen, wie auch für notwendige gesetzgebende Initiativen in den Ländern definiert. Somit sind nicht nur Hessen und Hamburg in der Pflicht, technisch und gesetzgeberisch tätig zu werden.

Mit der zu erwartenden Einführung eines „Verfahrensübergreifenden Recherche- und Analysesystems“ (VeRA) in Bayern soll die Anwendung über das Programm Polizei 20/20 zum Abruf entsprechender Nutzungslizenzen künftig allen Bundesländern zur Verfügung stehen, wo sie dringend gebraucht wird.

Die Innenministerinnen und Innenminister, Senatorinnen und Senatoren der Länder sind daher nun aufgefordert, schnellstmöglich rechtliche Regelungen in den Polizeigesetzen zu schaffen, die einen verfassungskonformen Betrieb polizeilicher Analysesysteme sicherstellen.

Ein weiteres Abwarten kann nicht mehr als Begründung dafür dienen, dass Kolleginnen und Kollegen bei der Bekämpfung krimineller oder terroristischer Netzwerke arbeiten wie vor 20 Jahren während sich das Kriminalitätsgeschehen täglich mehr vom analogen in den digitalen Bereich verlagert.

Herzliche Grüße

Dirk Peglow
Bundesvorsitzender

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