KKI – oder der ganz alltägliche Wahnsinn

12.11.2018

Ein Montagmorgen Ende August. Es ist 06:50 Uhr. Kriminalkommissar Meyer dreht den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür im KKI* Sonnenschein herum und betritt sein Büro. Drei Wochen war er im wohlverdienten Jahresurlaub gewesen, hatte mit Frau und Kindern am Ostseestrand die Seele baumeln lassen und versucht, einmal nicht an die Arbeit zu denken.
KKI – oder der ganz alltägliche Wahnsinn
(c) Gabriel Matula (unsplash)

Die 141 Ermittlungsverfahren, die er vor seinem Urlaub ordentlich sortiert in seinem Büro hinterlassen hatte, hatten sich während seines Urlaubs immer mal wieder wie ein dunkler Schatten in sein Gedächtnis gedrängt, aber seine Kinder hatten es doch meistens geschafft, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Der erste Tag nach dem Urlaub ist für Meyer jedes Mal ein Horror. Wie viele neue Verfahren werden heute in seinem Fach auf ihn warten? Ihm ist unwohl, denn er kann die Masse an Ermittlungsverfahren eigentlich gar nicht mehr überblicken und schon gar nicht nach seinen eigenen Vorstellungen ordnungsgemäß bearbeiten.

Seine erste Arbeitswoche nach dem Urlaub hat er bereits komplett verplant. Aber Meyer hat Glück, es sind dieses Mal nur 20 neue Strafanzeigen, die ihm sein Vorgesetzter während seines Urlaubs zugeschrieben hat. Sein Gesamtverfahrensbestand beläuft sich damit jetzt auf 161 Ermittlungsverfahren.

Meyer nimmt den Stapel Verfahren aus seinem Fach und macht sich an die Arbeit. Ihm bleibt eine Stunde, bis der erste Vernehmungstermin ansteht und die Morgenrunde mit Chef und Kollegen steht vorher ja auch noch auf dem Plan. Das wird eng. Die neuen Verfahren werden wohl erst einmal warten müssen.

Meyer bearbeitet Betäubungsmittelkriminalität, kleine bis mittlere Delikte, aber in letzter Zeit häufen sich auf seinem Tisch auch größere Verfahren, die prinzipiell ins Fachkommissariat Strukturkriminalität gehören, aber das Fachkommissariat ist überlastet und unterbesetzt. Erst vor seinem Urlaub hatte Meyer mit dem Leiter des KK Strukturkriminalität telefoniert, um ein Ermittlungsverfahren abzugeben. Der hatte aber nur gestöhnt, als Meyer sein Anliegen vorgetragen hatte. Das Fachkommissariat würde auf dem Zahnfleisch kriechen – ein Kollege wäre seit längerer Zeit krank, drei Kollegen wären zu verschiedenen Ermittlungsgruppen im Land abgeordnet und der verbliebene Rest wäre mit den laufenden Großverfahren völlig überlastet. Ein weiteres Umfangsverfahren, an dem Observationen und Durchsuchungsmaßnahmen hängen, könne er momentan nicht übernehmen. Meyer kennt solche Telefonate zur Genüge und ist sie leid. Künftig wird er es wohl lassen, den Hörer in die Hand zu nehmen – geht ihm doch, durch die aussichtslosen Anrufe, seine kostbare Zeit verloren.

Um acht Uhr kommt Frau Krause zur Vernehmung. Eine nette, ältere Dame, die als Zeugin aussagen soll. Nach der Begrüßung fragt sie Kriminalkommissar Meyer als erstes, warum sie erst jetzt, im August, einen Vernehmungstermin bekommen hat, wo doch die Tat, die sie beobachtet hat, bereits im April geschehen ist. Diese Fragen ist Meyer inzwischen gewohnt und beantwortet sie, indem er Frau Krause den Stapel mit seinem Verfahrensbestand zeigt. Im Raum herrscht betretene Stille.

Frau Krause macht ihre Aussage und würde gerne noch einige Sorgen loswerden, die sie täglich mit den Jugendlichen aus der Nachbarschaft hat, doch dafür hat Meyer keine Zeit – um neun steht der nächste Termin an. Dabei war dies einer der Hauptgründe, weshalb er sich damals entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen. Er wollte sich um die Sorgen der Menschen kümmern, ihnen zuhören, für sie da sein – ihnen helfen. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Leider.

Nach der zweiten Vernehmung nimmt sich Meyer kurz Zeit, die 20 neuen Verfahren zu sortieren.

Um der Masse an Sachverhalten halbwegs Herr werden zu können, gibt es bei Meyer nur noch zwei Stapel für Ermittlungsverfahren: „Ganz wichtig“ (bei denen müssen eventuell Sofortmaßnahmen eingeleitet werden) und „Muss warten“. Unter die zweite Kategorie fallen dann Verfahren wie das mit Frau Krause. Und weil dieser Stapel so unendlich hoch ist, müssen Opfer und Geschädigte oder Zeugen wie Frau Krause monatelang warten, bis ihr Anliegen bei der Polizei an der Reihe ist. Um eins hat Meyer einen weiteren Vernehmungstermin. Vorher macht er schnell seine Mittagspause. Er fühlt sich gestresst und hat keinen rechten Appetit.

Manchmal hat Meyer Angst, dass es ihm so ergeht, wie einem Kollegen, der dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Dieser Kollege ist jetzt schon seit Monaten krank. Seine 93 Verfahren wurden auf die verbliebenen Mitarbeiter verteilt. Der Teil, den Meyer davon abbekommen hat, liegt auf dem Stapel „Muss warten“. Wie ein Kriminalist fühlt Meyer sich schon lange nicht mehr – eher wie der Verwalter eines riesigen Aktenberges.

Um halb drei klingelt das Telefon. Meyer hat gerade seine letzte Zeugin verabschiedet. Am Telefon ist Herr Müller – mal wieder. Herr Müller ist Zeuge in einem BTM-Verfahren und ruft inzwischen mehrfach wöchentlich bei Kriminalkommissar Meyer an, um ihm neuste Erkenntnisse in diesem Fall mitzuteilen, die er durch eigene Ermittlungen gewonnen hat. Die Hinweise von Herrn Müller sind gut und Meyer ist froh, dass es überhaupt noch Zeugen gibt, die bereit sind, Aussagen bei der Polizei zu machen, aber dennoch verschafft ihm Herr Müller mit seinen Anrufen jedes Mal noch mehr Arbeit, für die er keine Zeit hat. Nicht selten macht Meyer an solchen Tagen dann Überstunden, um die Hinweise von Herrn Müller zu Papier zu bringen, Überprüfungen durchzuführen und gegebenenfalls weitere Maßnahmen zu planen. So auch heute. 

Meyer ist müde und erschöpft, als er um 16:45 Uhr seine Bürotür schließt, den Schlüssel im Schloss herumdreht und nach Hause fährt.

Irgendwie sieht er kein Land mehr. Von der Urlaubserholung ist nach einem Tag nur noch wenig vorhanden. Die Situation an seinem Arbeitsplatz scheint unveränderlich und dabei ist Meyer erst 37. Soll das jetzt immer so weiter gehen?

 

Dienstagmorgen 05:30 Uhr – es scheint ein herrlicher Sommertag zu werden.

 

Fortsetzung folgt…

 

 * KKI - Kriminalkommissariat in der Inspektion