Reportage: Sinkender Respekt, steigende Gewalt, Personalnot - so mies ist der Job als Polizist

22.05.2018

Die Polizei soll die Gesellschaft beschützen. Aber kann sie das überhaupt noch, wenn Personal fehlt, Einsätze häufiger eskalieren und die Kriminalität immer vielfältiger wird? Unterwegs mit Polizisten in Deutschland (von Kerstin Herrnkind und Dominik Stawski)
Reportage: Sinkender Respekt, steigende Gewalt, Personalnot - so mies ist der Job als Polizist

Wenn es Freitag wird und Nacht, werden die Menschen unberechenbar. 22 Uhr in der Koblenzer Polizeizentrale, Schichtbeginn. Hauptkommissar Markus Knapp, 43 Jahre alt, legt seine Rüstung an, Schlagstock, Pistole, Schutzweste. "Gleich geht es ab", sagt er. "Das Wochenende verändert die Leute da draußen: Der eine hört rechtzeitig auf zu trinken. Der andere wird lustig. Und der Nächste krakeelig." Er steigt mit seinem Kollegen in den Polizei-Passat. Was wird diese Vollmondnacht bringen?

0.38 Uhr, Funkmeldung: "Überfall auf Spielhalle".

Das Gefilme nervt!

"Da müssen wir rein", ruft Knapp. Sekunden später bremst er vor der Halle. Mit der Hand am Holster laufen er und sein Kollege Marco Schäler zum Eingang. Sie tasten sich vor, der Spielhallenteppich verschluckt ihre Schritte. Eine Mitarbeiterin steht hinter dem Tresen, am Notknopf. "Was ist los?", ruft Schäler. Die Frau zeigt auf ein paar junge Männer, schmale Typen, gerade erwachsen, die sich hinter einem Automaten gesammelt haben. "Die sind ausgerastet und wollten nicht gehen."

Knapp ist erleichtert. Bis er sieht, dass einer der Männer das Handy auf ihn richtet. Der Alkohol lässt ihn zwar wanken, doch die Linse des Handys richtet er fest auf Knapp.

"Was machen Sie da?", fragt Knapp.

"Beweise sichern", lallt der Mann.

Weitere Beamte sind angekommen. Als sie sehen, was los ist, sagen sie nur: "Oje."

Junge Männer, die zu viel getrunken haben. Nur laufen sie heutzutage nicht weg, sondern zücken das Handy.

"Löschen Sie das!", sagt Knapp.

"Warum?", fragt der junge Mann.

"Weil ich nicht aufgezeichnet werden will", sagt Knapp.

"Was zu befürchten?"

"Machen Sie's einfach aus."

"Wer sagt das?"

"Ich sage das!"

"Aber was sagt der Rechtsstaat?"

Knapp ist genervt. "Rechtsstaat? Hier bin ich!"

Der Mann filmt weiter.

"Kommen Sie morgen um 18 Uhr aufs Präsidium, da erkläre ich Ihnen das."

Endlich nimmt der Mann das Handy runter, löscht das Video, ein Freund hat ihn überzeugt. Knapps Einsatz ist beendet, die Männer torkeln zurück in die Nacht. "Dieses Gefilme nervt!", sagt Knapp, "die haben heute weniger Respekt vor uns. Die ersten zehn Sekunden sind entscheidend. Eskalation oder Deeskalation?" Er zeigt auf das Pfefferspray an seinem Gürtel. "Dazu greifen wir heute leider häufiger."

Die Stimmung im Land ist gereizt. Vorige Woche, als Streifenpolizisten im baden-württembergischen Ellwangen einen Togolesen aus einem Flüchtlingsheim holen wollten, um ihn abzuschieben, kesselten laut Polizei Dutzende Asylbewerber die Beamten ein, schlugen gegen die Streifenwagen, drohten, bis die Polizisten schließlich den Schlüssel für die Handschellen herausgaben. So kam der Mann frei. Tage später stürmten Hunderte schwer gerüstete Beamte das Heim, Krankenwagen eilten herbei. Die Polizei wollte Stärke beweisen.

Kriminalität geht zurück

Denn längst gehört der Streit darüber, ob die mehr als 250.000 Polizisten die Lage noch im Griff haben, zum politischen Alltag. Kaum eine Talkshow-Woche ohne das Thema "innere Sicherheit". Ein Politiker nach dem anderen tritt eine Debatte los, meist verbunden mit Forderungen wie: Mehr Personal! Mehr Überwachung! Härtere Strafen!

In Bayern hat der Landtag gerade ein neues Polizeigesetz beschlossen, das den Beamten deutlich mehr Befugnisse verschafft. Es soll als Vorbild dienen für andere Länder. Juristen fürchten, dass dadurch auch völlig unbescholtene Bürger zum Ziel von Ermittlungen werden könnten.

Doch die Angst vor Gewalt, Verbrechen und Terror erscheint mächtiger als die Sorge um den Rechtsstaat. Von rechtsfreien Räumen ist die Rede, von Clans, die über die Staatsgewalt lachen. An fast jedem Wochenende erscheinen Meldungen über Krawalle in den Fußballstadien, manche Drittligaspiele werden von Hundertschaften bewacht, Festivals und Weihnachtsmärkte sind von Pollern und Streifenwagen umstellt. Hängen bleibt der Eindruck, dass sich zu wenige und zu schlecht ausgestattete Beamte um zu viele Aufgaben kümmern müssen.

Aber – ist das so? Und wie geht es den Polizisten, die für Sicherheit sorgen sollen und dabei selbst mit immer neuen Herausforderungen klarkommen müssen?

Der Streifzug auf der Suche nach Antworten beginnt in Berlin, wo Anfang dieser Woche Bundesinnenminister Horst Seehofer aktuelle Zahlen zur Kriminalität bekannt gegeben hat. Der überraschende Tenor: Die Kriminalität geht zurück – um fast zehn Prozent. Das klingt gut. Doch leider ist die ganze Wahrheit mal wieder komplizierter: Der Hauptgrund für den Rückgang ist die sinkende Zuwanderung – und damit die sinkende Zahl ausländerspezifischer Vergehen wie illegale Einreise und unerlaubter Aufenthalt.

Der Rest der Polizeistatistik ist uneinheitlich. Diebstahlsdelikte gehen deutlich zurück (von 2016 bis 2017 um 11,8 Prozent), Rauschgiftkriminalität nimmt zu (plus 9,2 Prozent), Delikte rund um Kinderpornografie auch (plus 14,5 Prozent). Die Zahl der Gewaltdelikte schwankt auf ähnlichem Niveau wie in den Vorjahren. Und als ob das Auf und Ab der Zahlen nicht verwirrend genug wäre, warnen Kriminologen auch noch grundsätzlich vor der Statistik. Sie sei fehleranfällig, denn sie betrachte nur das sogenannte Hellfeld. Wo sie besonders genau hinleuchtet, fällt besonders viel auf. Der ganze Rest – taucht gar nicht auf. Und die Statistik arbeitet obendrein mit polizeilich registrierten Verdachtsfällen und nicht mit rechtskräftigen Verurteilungen.

Man kann sich die deutsche Polizei wie ein Fischernetz vorstellen, das man über das Land geworfen hat. An manchen Stellen ist das Netz dicht geknüpft, da dauert es nur Sekunden, bis die Polizei da ist, doch an anderen Stellen franst es aus. Und manche Fische sind so wendig, dass sie sich einfach hindurchschlängeln. Fahrraddiebe zum Beispiel. Mörder dagegen bleiben fast immer hängen. Das Netz sammelt alles Mögliche ein, und manche Vergehen, wie das Schwarzfahren, machen so viel Arbeit, dass einige es lieber gar nicht im Netz hätten.

Polizei als Zuschauer im Schanzenviertel

Eigentlich sollten alle Teile des Netzes von Bayern bis Schleswig-Holstein, von NRW bis Berlin so fest wie möglich miteinander verknotet sein. Wer will schon, dass ein wild gewordener Hai durch lose Taue stoßen kann, ein den Behörden bekannter Gefährder wie der Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri zum Beispiel. Manchmal sind die Strömungen im Meer auch so stark, dass das Netz zu reißen droht– so sah es vergangenen Sommer beim G20-Gipfel in Hamburg aus. Man hat es dann vorsichtshalber für eine Weile eingeholt, die Polizei stand vorm Schanzenviertel und wurde zum Zuschauer.

Dieses Netz ist so groß, dass es unmöglich wäre, es komplett zu begutachten. Doch einige Stellen kann man sich anschauen und ihre Beschaffenheit prüfen.

Ein besonders dicker und wichtiger Knoten im Netz ist die Einsatzleitstelle der Polizei in Hannover, einer Stadt, die neben Frankfurt und Berlin laut Statistik zu den gefährlichsten Großstädten gehört. Wie auf einer Kommandobrücke sitzen Polizisten vor Computer-Reihen, tragen Knöpfe in den Ohren, tippen Straßennamen ein. Karten erscheinen auf den Bildschirmen, Punkte markieren, wo sich der nächste der 60 Streifenwagen befindet. 1000 Anrufe gehen in unruhigen Nächten hier ein. Einer beschwert sich, weil der Nachbar zu laut Musik hört.

Einer meldet sein Fahrrad als gestohlen. Einer Frau ist der Hund ausgerissen. "Er hat rotbraunes Fell", sagt sie. "Sieht aus wie ein Fuchs. Wir haben ihn heute erst aus Ungarn gerettet."

Wegen alles Möglichen wählen die Leute inzwischen die 110. "Diese Anrufe sind mehr geworden", sagt Matthias Steinkopf, Kommissar vom Lagedienst. Manchmal sind es sogar vorgetäuschte Notlagen. Der Missbrauch der 110 steht unter Strafe. Die Statistik zeigt, dass die Zahl der Verstöße über die Jahre zugenommen hat.

Um 17.34 Uhr ein Anruf aus wahrer Not.

Eine Frau hat sich mit ihren Kindern im Keller verschanzt. Ihr Mann habe sie vergewaltigt, ihrem Sohn einen Zahn ausgeschlagen. Steinkopf checkt im "Polas", dem Polizei-Auskunftssystem, ob der Mann bekannt ist. Körperverletzung, sexuelle Nötigung, Bedrohung, liest er. Er schickt einen Streifenwagen, die Beamten nehmen den Mann Minuten später in Gewahrsam.

19.34 Uhr, ein Fax von der deutschen Flugsicherung: Der Pilot eines Ferienfliegers aus Mallorca ist beim Landeanflug von einem Laserpointer geblendet worden. Der Laser war in der Nähe einer Tankstelle. Streifenwagen werden alarmiert. In drei Minuten landet der nächste Ferienflieger.

22.20 Uhr: Ein Autofahrer rast ohne Licht durch die Stadt. Er schlingert auf die Gegenfahrbahn, kracht gegen Autos. Die Polizei stoppt ihn, der Schnelltest zeigt über drei Promille Alkohol im Blut.

2.59 Uhr: Feuer in einem Mehrfamilienhaus. Schnellstmögliche Evakuierung.

Unbestechliche Zeugen

So geht es die ganze Nacht, die Stadt spült alles ins Netz – Wichtiges, Unwichtiges, Meldungen von Toten, Besoffenen, Unfällen, verlorenen Schlüsseln und Geldbeuteln, von Verwirrten und Verängstigten. In der Leitstelle müssen sie in Sekunden sortieren. Das kann auch schiefgehen, wie vor zwei Jahren in der Nähe von Bonn, als eine Polizistin einen Mann in der Leitung hatte, der flüsterte, dass seine Freundin gerade vor seinen Augen vergewaltigt werde. Die Beamtin hielt das für einen Scherz, musste später ihren Posten räumen. Funktioniert die Leitstelle nicht, kann die Polizei als Ganzes nicht funktionieren. Polizeipräsidenten hüten sich, dort zu sparen. In der Leitstelle muss die Welt noch in Ordnung sein. Doch bei der Polizei gibt es zwei Welten, drinnen und draußen. Diese Welten müssen harmonieren. Deswegen sei es gut, sagt Kommissar Steinkopf, dass er früher selbst einmal draußen war.

Hamburg, Reeperbahn, an einem Freitagabend. Die berühmte Davidwache mitten auf dem Kiez – wildes Strömungsgebiet, wenn man so will.

Auch hier beginnt der Abend mit der Frage, wer wen filmt. Einige Polizisten tragen kleine Kameras neben ihrem Hemdkragen, sogenannte Bodycams. Pilotversuche in Hessen haben gezeigt, dass Polizisten seltener angegriffen werden, wenn gefilmt wird. Doch die Kameras berühren die Freiheitsrechte der Bürger. Datenschützer halten sie für rechts widrig. Auch wenn sie im Zweifelsfall Beweise liefern können – für, aber auch gegen die Polizei. Wie in Herford, wo 2017 ein Beamter bei einer Verkehrskontrolle einen Autofahrer verprügelt hatte. Er wurde durch eine Kamera im Streifenwagen überführt, verurteilt und fürchtet um seinen Job.

"Bodycams sind unbestechliche Zeugen", sagt Philipp Kienast, Dienstgruppenleiter auf der Davidwache. Er sagt, er würde gern alle Kollegen damit ausrüsten. In diesem Moment ahnt noch niemand, welche Bedeutung dieser Satz bald bekommen wird.

Es ist Nacht geworden. Die Leute auf der Reeperbahn begießen ihr Wochenende, ihre Ehe, ihre Scheidung, was auch immer.

Die Streifenpolizisten John Wendler und Stefan Thieme, beide Mitte 30, haben gerade einen Mann ermahnt, der sich an einer Hauswand erleichtert hat, als sie um kurz vor eins zu einer Prügelei gerufen werden. Tumult. Männer grölen. Aus dem Gemenge tritt ein Polizist mit blutender Lippe hervor. "Eine Faust mitten ins Gesicht", sagt er. "Bumm. Wie eine Bombe!" Sein Jochbein ist rot. Sanitäter fahren ihn zur Klinik.

Der Mann, der die Faust schwang, wird von Polizisten zu Boden gedrückt. Handschellen klicken. Eine Frau weint. "Das war doch nur eine kleine Schubserei."

Die Polizei bringt ihn und einen weiteren Mann in den Zellentrakt im Keller der Davidwache. Die Gewahrsamszellen füllen sich in dieser Nacht schnell. Polizist Wendler geht um vier Uhr morgens, zwischen den Einsätzen, in den Keller, öffnet die Tür von Zelle fünf. "Ich hab Mist gebaut, überreagiert", sagt der Insasse. Wendler nickt, schließt die Tür wieder, geht in die Nachbarzelle, wo der Freund des Mannes auf der Pritsche liegt. Der schnellt hoch, versucht, Wendler ins Gesicht zu schlagen. Der Polizist weicht aus, dreht sich um, verlässt die Zelle. Ohne ein Wort. "Damit muss man rechnen", sagt er. Der Reumütige darf gleich nach Hause, er wird Post bekommen. Der andere bleibt noch ein bisschen sitzen.

"Verstärkung gesucht"

Wendlers verletzter Kollege ist aus der Klinik zurück in der Wache. Krankgeschrieben. "Aber zum Glück nichts gebrochen", sagt er. Eine Bodycam trug er nicht. "Aber vielleicht ist auf den Überwachungskameras was drauf." Er ist 26, seit vier Jahren Polizist. "Das erste Mal, dass ich geschlagen wurde." Er klingt abgeklärt, so, als musste es irgendwann passieren.

Im Jahr 2017 zählte das BKA bundesweit 66 524 Polizeivollzugsbeamte, die Opfer von vollendeter Gewalt wurden – innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl um 17,1 Prozent gestiegen. "Es ist ein Traumberuf, der zum Albtraum werden kann", sagt einer der Hamburger Beamten. Gerade ist in Berlin ein Autodieb wegen versuchten Mordes an einem Polizisten verurteilt worden. Der Mann hatte den Beamten, der ihn bei der Tat ertappt hatte, knapp 70 Meter mit dem geklauten Wagen über die Straße geschleift. Der Polizist überlebte nur, weil er eine Schutzweste trug, die er privat bezahlt hatte. "Ich war mit Leib und Seele Polizist. Ich habe alles verloren", sagte er vor Gericht. Bis heute schluckt er Schmerzmittel und kann sich kaum bewegen.

Überall im Land wünschen sich Polizisten eine bessere Ausrüstung, um sich schützen zu können. Die Polizei in Trier hat ihre Streifenbeamten mit Elektroschockern ausgestattet, sogenannten Tasern. Der Versuch sei geglückt, heißt es. Meist reiche es schon, damit zu drohen. Ein ähnliches Experiment läuft in Berlin. Und auch in Bayern will man mehr Taser.

Es sind zermürbende Zeiten für viele Polizisten. Der sinkende Respekt. Die steigende Gewalt. Die Überstunden – 22 Millionen schiebt der Apparat laut Gewerkschaft vor sich her. In manchen Bundesländern ist der Krankenstand auf Rekordniveau, wie in Mecklenburg-Vorpommern, wo Polizisten 2016 fast 178.000 Tage dienstunfähig waren.

Nichts braucht die deutsche Polizei so dringend wie Menschen. Auf vielen Streifenwagen prangen Schriftzüge wie "Verstärkung gesucht". Nach Jahrzehnten, in denen die Innenminister Stellen strichen, bricht nun Panik aus, denn die große Pensionierungswelle steht noch bevor.

In einem Unterrichtsraum der sächsischen Polizeischule in Bautzen versammeln sich Frauen und Männer, die eben jene Verstärkung sein sollen. Sie tragen Pistolen aus Plastik, ihr Pfefferspray ist nur Seifenlauge. Sie üben eine Festnahme: Ein paar spielen pöbelnde Jugendliche, die anderen Polizei. Sie sind neu an der Schule.

Aber schon nach drei Monaten Ausbildung werden sie mit echten Waffen auf Streife gehen, Flüchtlingsheime schützen oder Gefangene bewachen. Nur echte Beamte dürfen sie noch nicht sein. Als "Wachpolizisten" sind sie befristete Angestellte des Freistaats Sachsen, mit beschränkten Befugnissen und notdürftiger Ausbildung – Symptome der staatlichen Personalnot.

Hilfssheriffs

Die sächsische Polizei rührte kürzlich erneut die Werbetrommel für das 2017 gestartete Projekt. Denn die Bewerberzahlen sinken. Es wirkt verzweifelt – als wüsste das Land nicht mehr, wie es das löchrige Netz flicken soll. Zum dreimonatigen Unterricht in Bautzen gehören neben Selbstverteidigung und Schießausbildung auch ein paar Stunden "Interkulturelle Kompetenz". Vor allem aber lernen die Wachpolizei-Anwärter ihre Rechte, die sich im Wesentlichen auf Ausweiskontrollen, Platzverweise und Gefahrenabwehr beschränken. Die häufigsten Sätze des Dozenten lauten: "Aber das ist für euch eigentlich nicht relevant" und "Spielt erst mal keine Rolle".

Kritiker spotten über die "Billiglösung", nennen die Wachpolizisten "Hilfssheriffs". Die sächsische Polizeiführung betont zwar, dass die Einstellungsvoraussetzungen bis auf die Zahl der Liegestütze fast die gleichen seien wie für reguläre Kollegen. Trotzdem rutschen über die Schulung Bewerber in den Dienst, die zuvor fast sämtlich im Auswahlverfahren gescheitert waren. Sie hatten zu schlechte Augen, überzeugten im Gespräch nicht oder standen, trotz grundsätzlicher Eignung, auf der Rangliste zu weit hinten.

Für einen gelernten Marketingkaufmann etwa, der zuletzt bei BMW in Leipzig als Leiharbeiter am Band stand, dort "keine Perspektive" sah und die Auswahlverfahren in Sachsen und Baden-Württemberg "nicht gepackt" hatte, war die Wachpolizei die "letzte Chance", noch einmal den Beruf zu wechseln. Eine gelernte Kinderpflegerin will nach ihrer Zeit bei der Bundeswehr weiter Uniform tragen – "weil das Respekt einflößt". Ein 20-jähriger Abiturient schaffte bei seiner ersten Bewerbung in der elften Klasse die nötigen Punkte nicht und ist nun einer der Jüngsten.

Zu besonderen Vorfällen soll es bei den fertig ausgebildeten Wachpolizisten bislang nicht gekommen sein. Nur Anfang 2017 soll sich während der Ausbildung jemand selbst ins Bein geschossen haben, und ein anderer musste aussortiert werden, weil er trotz mehrfacher Ermahnung nicht aufhörte, eine türkischstämmige Kollegin rassistisch anzupöbeln.

In Halle im Nachbarland Sachsen-Anhalt verübte ein junger Student der Polizeifachhochschule vor wenigen Tagen einen Einbruch, bei seiner Flucht stürzte er zwölf Meter in die Tiefe und starb. In der Stadt reagierte man geschockt und trauerte. Fragte sich aber auch, wie ein angehender Polizist zum Einbrecher werden konnte.

Auch in Berlin tobt ein Streit um die Eignung des Nachwuchses. Vor Monaten machte sich ein Ausbilder auf Facebook Luft: Die Zahl der Berliner Polizeischüler, die beim Deutsch-Diktat völlig versagen, habe sich von 2010 bis 2016 verneunfacht. "Aufgrund der hohen Einstellungszahlen werden derzeit auch Bewerber eingestellt, die in der Rangliste nicht ganz so weit oben anzusiedeln sind", schrieb er.

"Kommissar Isidor Kugelblitz"

Überall im Land beobachtet die Gewerkschaft der Polizei eine ähnliche Tendenz, mal deutlicher, mal schwächer. Gut findet sie, dass die Politik endlich verstanden hat, dass eingestellt werden muss. Schlecht findet sie, wie das funktioniert und wer da alles zur Polizei kommt.

Besonders heikel sind die Folgen des Personalmangels bei der Kriminalpolizei. Vergangenen Herbst hatte der Hamburger Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Jan Reinecke, öffentlich um Hilfe gerufen: "Ist die Kripo am Ende, Herr Polizeipräsident?" Und per Zeitungsinterview wissen lassen, dass im Betrugsdezernat die Verfahrensakten einfach "auf die Fensterbank wandern, statt sofort bearbeitet zu werden".

In seinem Büro wird Gewerkschafter Reinecke konkreter: "Wer heute einen schweren Raub mit Waffe begeht, ist schön blöd", sagt er. "Betrug ist für Kriminelle viel einträglicher, schwerer für die Polizei zu verfolgen und mit geringerer Strafe bedroht." Nach seiner öffentlichen Kritik wollten einige aus der Politik nicht mehr mit ihm reden. Ihnen gefiel offenbar nicht, dass die Polizei schlechtgemacht wird. Dabei will er die Polizei besser machen. Den Großteil seines Berufslebens verbrachte er bei der Kriminalpolizei, war zuständig für Organisierte Kriminalität, kurz OK. "Heute bekämpfen wir in Hamburg OK praktisch nicht mehr, uns fehlt das Personal."

Ursel Scheffler schreibt normalerweise über "Kommissar Kugelblitz", der seit Jahrzehnten bei Kindern dafür berühmt ist, in rasender Eile Verbrecher zu jagen. Aber es ist nicht lange her, da erzählte die Kinderbuchautorin der Hamburger Polizei ausnahmsweise eine reale Geschichte. Bei einem Kirchenbesuch hatte ihr eine Frau die Brieftasche und damit auch ihre Identität gestohlen. Unter Schefflers Namen wurden im Netz Schmuck, Medikamente, Blumen, alles Mögliche bestellt – im Wert von mehr als tausend Euro. Scheffler erstattete Anzeige, aber schon da habe der Beamte gestöhnt, dass er in Akten ersticke. "Der tippte alles in so ein altes Windows-Hackbrett", sagt Scheffler, "es dauerte ewig, bis er eine Datei heruntergeladen hatte." Sie ermittelte selbst und erhielt von einem der Lieferanten sogar den Namen der mutmaßlichen Betrügerin. Zwei Wochen nach dem Diebstahl versorgte sie die Polizei damit, die zunächst sagte, dass alles nicht so einfach sei, und später einen Brief schickte, demzufolge man das Verfahren eingestellt habe, weil die Täterin unbekannt sei.

Scheffler aber blieb dran, es trudelten ja auch immer neue Inkassobriefe ein. Sie drängte die Polizei, schickte ihre persönliche Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis, dass sie um die Personalprobleme wisse, daher habe sie selbst recherchiert. Sie unterschrieb mit "Kommissar Isidor Kugelblitz".

Bis heute, mehr als anderthalb Jahre nach der Tat, musste die Betrügerin nicht vor Gericht erscheinen. Laut Hamburger Staatsanwaltschaft habe man inzwischen zwar Anklage erhoben, aber der Prozess sei noch nicht anberaumt.

Inkompetenz

Scheffler ist frustriert. Sie habe einmal geglaubt, der Rechtsstaat funktioniere gut. Doch sie sei auf zu viel "Inkompetenz" gestoßen. "Mit den Büchern vermittle ich Kindern, dass die Polizei dein Freund und Helfer ist", sagt sie, "und jetzt das!" "Das ist sicher kein Ruhmesblatt gewesen", gab der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer bereits vor Monaten öffentlich zu. Er verteidigte seine Behörde, sie sei mit den Folgen des G20-Gipfels beschäftigt, dessen Aufarbeitung zahlreiche Kollegen binde.

Nur, was bringt diese Erklärung, wenn es um das Vertrauen der Bürger in ihre Polizei geht? In einem sicheren Land wie Deutschland wird nicht jeder ständig Opfer einer Straftat. Aber wenn es passiert, erwartet er, dass der Staat, dem er Steuern zahlt, zu Hilfe eilt. Buchstäblich.

An einem Montagmorgen erreicht die Kripo Hannover die Meldung eines Einbruchs. Für die Tatortaufnahme solcher Straftaten sind Kriminalpolizisten und nicht Streifenbeamte zuständig. Fast alle fünf Minuten dringen im Schnitt Einbrecher in Häuser und Wohnungen ein. Mehr als 116.000 Mal im vergangenen Jahr.

Der Tatort liegt auf dem Land außerhalb von Hannover, inmitten gepflegter Häuser und Gärten. Hinter dem Grundstück blickt man über Felder. "Ideal für Einbrecher, die sich unbemerkt anschleichen wollen", sagt Kommissar Martin Schult, 28. Gemeinsam mit seinem Kollege Volker Lochte, 62, übernimmt er die erste Spurenarbeit, beide arbeiten im Kriminaldauerdienst, der Bereitschaftseinheit der Kripo.

Eine ältere Dame öffnet die Haustür. Die Einbrecher kamen in der Nacht, die Frau und ihr Mann schliefen, auch noch, als die Täter die Schränke in ihrem Schlafzimmer durchwühlten. Am Ende nahmen sie einen Geldbeutel und Schmuck mit und schleppten einen kleinen Tresor hinaus. Die Kommissare pinseln mit Rußpulver ab, was die Einbrecher angefasst haben könnten. Aber nirgendwo Fingerabdrücke, nur an der Tür vom Hauswirtschaftsraum der Abdruck eines Handschuhs.

Etwa anderthalb Stunden dauert der Einsatz. Am Ende bedankt sich das Ehepaar überschwänglich. "Vielen, vielen Dank, dass Sie da waren", sagt die Frau und will Lochtes Hand gar nicht mehr loslassen. Das schnelle Kommen hat ihnen aus dem Schock geholfen.

"Als Polizist ist man Seelsorger und Tröster", sagt Lochte. "Es ist wichtig, dass wir zeigen, dass wir für die Leute da sind."

Die Wahrscheinlichkeit, die Täter zu fassen, ist gering. Bundesweit lag die Aufklärungsquote 2017 bei 17,8 Prozent, immerhin höher als in den Jahren zuvor. In vielen Bundesländern wurden die Einbruchskommissariate verstärkt, auch in Hamburg gründete die Kripo eine Spezialeinheit: die "Soko Castle". Seither sind die Einbruchszahlen um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Bundesweit sanken sie im vergangenen Jahr um 23 Prozent.

Diese Hoffnung keimt nun auch an einer anderen Schwachstelle des Netzes, der Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen. In den vergangenen Wochen rückten Beamte mehrfach zu Razzien aus. Mitte April in Essen riegelten Hunderte Polizisten Straßenzüge ab. Die Bilanz: acht Fest nahmen, manche aufgrund offener Haft befehle. Dazu Hunderte Kilo Schmuggelware, Tabak, Drogen. Und 20 Strafanzeigen.

Die Beamten sehen in den Clans einen Schwarm Piranhas, dem sie nur ausnahmsweise einmal hinterherkommen. "Die Polizei kann viel zu wenig gegen kriminelle Clans tun", sagte Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter nach der Razzia. "Sie hat einfach zu wenig qualifiziertes Personal."

Cyberkriminalität

Anderswo sind die Fische unsichtbar geworden, im Cyberraum zum Beispiel. "Die klassischen Bankräuber sind inzwischen fast Geschichte", sagt Hannovers Polizeipräsident Volker Kluwe. "Straftäter, die auf das große Geld aus sind, haben längst umgesattelt – auf die unendlichen Möglichkeiten im World Wide Web." Laut Bundeskriminalamt hat die Zahl der Internetstraftaten in den vergangenen zwei Jahren um mehr als 50 Prozent zugenommen. Das klingt schlimm genug. Doch die Dunkelziffer liegt nach Expertenschätzung bei etwa 90 Prozent.

Es wird viel Geld und Zeit kosten, das Netz in Ordnung zu bringen. Es wird auch nie perfekt sein, weil die Fische sich wandeln. Und wer will schon ein Netz, dessen Maschen so eng sind, dass alle, auch Unschuldige, darin hängen bleiben können.

Zum Ende dieser Streife durch den deutschen Polizeiapparat noch ein Anruf auf der Davidwache in Hamburg. Nach dem Faustschlag blieb der Polizist zwei Wochen krankgeschrieben. Er hatte eine Gehirnerschütterung. Inzwischen ist er zurück auf der Straße. Eine Überwachungskamera hatte den Angriff aufgezeichnet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Link zur Reportage:

https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/polizei-in-deutschland--sinkender-respekt--gewalt--personalnot-7986000.html

 

diesen Inhalt herunterladen: PDF