Tatort Gesundheitswesen! Ein Milliardenbetrug? Die 16. Berliner Sicherheitsgespräche am 22.09.22 zu einem kriminalpolitisch relevanten Thema

01.09.2022

der kriminalist, Editorial 9/2022
Harry Strauss auf Pixabay

Die Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen dürfte ein Arbeitsfeld sein, das bei hoch motivierten Absolventinnen und Absolventen der polizeilichen Hochschulen eher selten auf Platz 1 der Wunschkommissariate für eine Erstverwendung zu finden ist. Auch im Kreise erfahrener Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten führte dieser Phänomenbereich, zumindest bis zum Bekanntwerden der Schäden, die durch kriminelle Handlungen im Zusammenhang mit Corona-Testzentren entstanden sind, eher ein Schattendasein.

Der gewissermaßen „stiefmütterliche“ Umgang mit diesem Deliktsbereich erfährt zu guter Letzt dadurch Bestätigung, dass bisher nur in sieben Bundesländern spezialisierte Dienststellen für die Bearbeitung solcher Tatbestände eingerichtet wurden. Bei der Justiz erfolgt die Bearbeitung dieser Delikte immerhin in 10 Bundesländern durch landesweit zuständige Schwerpunktabteilungen der Staatsanwaltschaft. In 5 Bundesländern verzichtet man bei Polizei und Justiz gänzlich auf die Bereitstellung fachlicher Expertise, um die zum Teil hochkomplexen Ermittlungsverfahren zu bearbeiten.

Stattdessen versucht der überwiegende Teil polizeilicher Ermittlerinnen und Ermittler in Deutschland, sich das erforderliche Fachwissen in solchen Verfahren „nebenbei“ anzueignen und kann dafür nicht immer auf externe Beratung durch Abrechnungsspezialisten hoffen. Vermutlich sind viele Kolleginnen und Kollegen auch noch bemüht, hochkomplexe Abrechnungssysteme zu verstehen, die selbst für Heilberufsangehörige nur noch schwer durchschaubar sind und aus diesem Grund von dort auf professionelle Abrechnungsfirmen ausgelagert werden. Wenn der Ermittlungseifer nicht auf diesem Weg bereits erhebliche Einbußen erleiden musste, dürfte ein weiterer Motivationseinbruch im Zuge der Feststellung drohen, dass die Digitalisierung der Abrechnungsverfahren im Gesundheitswesen in einem
Tempo voranschreitet, dem die Anpassung erforderlicher IT-Forensik bei den Ermittlungsbehörden nicht standhalten kann.

Diesem ernüchternden Befund stehen die vielfältigen Erscheinungsformen von Betrugsstraftaten im Gesundheitswesen und die dadurch verursachten Schäden entgegen. Öffentliches Interesse erregte hingegen die Berichterstattung zu betrügerischen Abrechnungen von Corona-Tests und der dabei entstandenen Schadenssummen. Demzufolge waren im April 2022 alleine bei der Polizei Berlin 335 Ermittlungsverfahren wegen nicht durchgeführter, aber abgerechneter Coronatests anhängig, bei denen ein Schaden von 24 Millionen Euro errechnet wurde. Ausgehend von der Tatsache, dass bis Ende April rund 10,3 Milliarden Euro für Bürgertests ausgezahlt wurden, dürfte der durch betrügerische Abrechnungen erlangte Gewinn - unter Berücksichtigung eines erheblichen Dunkelfeldes - sich bei ca. 1 Milliarde Euro bewegen.

Bleibt die Frage, ob wir Ermittlerinnen und Ermittler wirklich erstaunt darüber sind, dass es möglich war, über wenige Quadratmeter große Gewerbeflächen mehrere Tausend Coronatests am Tag betrügerisch abzurechnen oder hierfür sogar Testzentren zu nutzen, die gar nicht existent waren?

Leider bietet unser Gesundheitssystem nicht erst seit der Corona-Pandemie ausreichend Tatgelegenheiten, um kriminelle Gewinne zu erzielen. Der Topf, aus dem sich die schwarzen Schafe aller Berufsgruppen des Gesundheitswesens bedienen, war nach Schätzungen des statistischen Bundesamtes für das Jahr 2021 mit etwa 465 Milliarden Euro befüllt und hatte damit einen erneuten Höchststand bei den Gesundheitsausgaben erreicht. Dies ist eine beträchtliche Summe – insbesondere, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Gesamt-Bundeshaushalt für das Jahr 2021 inclusive des Nachtragshaushaltes mit insgesamt 548 Milliarden Euro beschlossen wurde.

Zur eingangs beschriebenen desolaten Situation bei den Strafverfolgungsbehörden kommt hinzu, dass auch einer Erhebung der Schadenssummen in Deutschland offenbar nicht die notwendige Bedeutung zugemessen wird. So liegen allenfalls Schätzungen vor, die sich auf eine durch die Universität Portsmouth/Großbritannien durchgeführte Dunkelfeldstudie beziehen. Hiernach soll durch kriminelle Handlungen ein jährlicher Schaden von etwa 6,19 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben entstehen. Bei Zugrundlegung der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 2021 in Höhe von 263 Milliarden Euro wäre das eine Summe von annähernd 16,28 Milliarden Euro, die in Deutschland durch Vermögensstraftaten im Gesundheitswesen erlangt wurden.

Diese Berechnung erscheint vor dem Hintergrund der für 2023 zu erwartenden Finanzierungslücken bei den gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 17 Milliarden Euro - neueren Berechnungen zufolge könnte diese Summe sogar auf 25 Milliarden Euro anwachsen - und der zu erwartenden Beitragserhöhungen für Versicherte von besonderer Bedeutung.

Für die abschließende Feststellung, dass diese Straftaten nicht nur ein Milliardengeschäft für kriminelle Akteure darstellen, sondern auch mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit von Patientinnen und Patienten verbunden sind, bedarf es keiner besonderen kriminalistischen Expertise. Diese ist hingegen im erheblichen Umfang bei den Strafverfolgungsbehörden erforderlich, um den kriminellen Akteuren auf Augenhöhe zu begegnen. Ferner sollte man sich, was die tatsächlich verursachten Schäden anbelangt, endlich zu einer Dunkelfeldstudie in Deutschland durchringen und eine politische Entscheidung darüber treffen, ob dieses Kriminalitätsfeld als einer der Schwerpunkte in den nächsten Periodischen Sicherheitsbericht aufgenommen wird.

Es freut mich sehr, dass der BDK in Kooperation mit dem GKV-Spitzenverband seine 16. Berliner Sicherheitsgespräche zu diesem kriminalpolitischen Schwerpunktthema am 22.09.2022 unter der Schirmherrschaft von Staatsminister Joachim Herrmann in der Vertretung des Landes Bayern in Berlin durchführen wird. Neben einer Bestandsaufnahme werden wir mit unseren Gästen vor allem die Schritte diskutieren, die aus Sicht der Praktiker notwendig sind, um dieses Kriminalitätsphänomen mehr in den Fokus zu rücken und nachhaltig zu bekämpfen.

Ich würde mich freuen, Sie in Berlin begrüßen zu dürfen; die Anmeldung zur Veranstaltung wird in Kürze auf unserer Website freigeschaltet.

Herzliche Grüße

Dirk Peglow
BDK-Bundesvorsitzender

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