Wo bleibt die vorausschauende (Kriminal-)Politik?

02.05.2021

Die Bewältigung der Pandemie durch die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern weist erschreckend viele Parallelen zu dem Mangel an Vorausschau bei wegweisenden kriminalpolitischen Entscheidungen auf.
Offener Brief

Während viele Wissenschaftler und die Fachöffentlichkeit bereits lange konkrete Maßnahmen einforderten, zögert und zaudert die Politik immer wieder. Häufig erfand sie Gründe, warum dies oder jenes schwierig oder gar unmöglich sei. Diese Grundaussage zieht sich für mich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Stadien der Pandemiebewältigung. Zuletzt mussten wir zusehen, wie zahlreiche Wissenschaftler, zum Beispiel Prof. Dr. Melanie Brinkmann, wochenlang sehr detailliert und fundiert begründet vor einer schlimmen dritten Welle der Pandemie warnten, ohne dass politisch die notwendigen Konsequenzen daraus gezogen worden wären. Diese Nicht- Konsequenzen haben im Ergebnis zu zahlreichen zusätzlichen Toten und Langzeiterkrankten geführt, obgleich dies vermeidbar gewesen wäre.

Leider deckt sich diese Beobachtung mit recht vielen Erfahrungen, die ich bei kriminalpolitischen Entscheidungsprozessen machen musste.

Beispiel Maskenpflicht

Ich möchte diese Prozesse anhand von wenigen Beispielen verdeutlichen und beginne mit einem positiven Beispiel. Ich erinnere mich gut daran, dass wir im vergangenen Jahr zu den allerersten gehörten, die eine sog. Maskenpflicht einforderten. Warum sich auch die Sicherheitsbehörden wünschten, dass der Bürgerkontakt mit gewissem Schutz erfolgten sollte, begründete ich in einigen Interviews. So titelte zum Beispiel der SWR am 9. April 2020: „Warum der Bund Deutscher Kriminalbeamter die Maskenpflicht will“. Am 20.04.2020 führte dann zunächst Sachsen und eine Woche später alle übrigen Länder verschiedene Formen der Maskenpflicht ein. Grundlage unserer Forderung waren unter anderem die überwältigend eindeutigen Forschungsergebnisse, die anschaulich zusammengetragen und nachlesbar waren.

BDK fordert fachspezifische Ausbildung und neue Berufsbilder in der Kripo

Das kriminalpolizeiliche Berufsleben erfordert wiederkehrend Prognoseentscheidungen und die Arbeit mit Hypothesen. Für die Arbeit des BDK gilt das in gewisser Hinsicht auch. Wir beraten uns in unserem Wissenschaftlichen Beirat, beziehen Expertise von außen und von Spezialisten aus den eigenen Reihen ein und kommen dann nach Diskussion im Vorstand zu einer kriminalpolitischen Forderung oder Bewertung. Es entspringt also nicht unserem Bauchgefühl, sondern einer ausgewogenen Analyse, wenn wir uns z. B. für neue Qualifikationswege und Zugänge zur Kriminalpolizei stark machen. Bleiben wir bei diesem Beispiel, (leider) einem Evergreen unter unseren kriminalpolitischen Positionen.

Schon heute ist klar absehbar und erkennbar, dass wir in 5 und 10 Jahren mit dem Konzept scheitern werden, den kriminalpolizeilichen Nachwuchs, der aus der Schutzpolizei zu uns stößt, nur mehr oder weniger kurz oder gar nicht weiterzubilden. Diese Kolleginnen und Kollegen sind sodann von ihrem  Dienstherrn nicht ausreichend auf die vielfältigen und herausfordernden Anforderungen im Arbeitsalltag vorbereitet. Wir benötigen bei fortschreitender Digitalisierung vollkommen neue Berufsbilder in der Kripo, die mit dem Wachdienst kaum mehr Überschneidungen aufweisen werden und bei denen eine Vorverwendung auf dem Streifenwagen oder in Einsatzhundertschaften (über Praktika hinaus) keinen Mehrwert mehr erbringen. Was fast noch wichtiger ist: Die Bundesländer, die einen ausschließlichen Berufseinstieg bei der Schutzpolizei vorsehen, verprellen all die jungen Talente, die schon vor ihrer Bewerbung bei der Polizei den unbedingten Wunsch in sich tragen, bei der Kriminalpolizei arbeiten zu wollen.

Wenn wir nun also heute feststellen, dass uns in vielen Bereichen Kriminalbeamte fehlen, die über eine ausreichende Expertise, Erfahrung und möglicherweise sogar Spezialwissen verfügen, so stehen wir vor einem Problem, das der BDK seit etwa drei Jahrzehnten vorbringt und dessen Lösung durch wissenschaftliche Erkenntnisse und fundierte Fakten vielfach untermauert ist.

Der Personalbedarf der Kripo

Ähnlich verhält es sich mit dem Personalbedarf - vorwiegend bei den Kriminalpolizeien der Länder. Zahlreiche bundesgesetzliche Änderungen im materiellen Strafrecht sowie Strafprozessrecht, die die Einführung von „Anzeigepflichten“ (Twitter & Co müssen ab 1. Februar 2022 viele strafrechtliche Sachverhalte an das BKA melden - Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität) lassen sicher vorhersagen, dass die Grenzen des personell Möglichen ein weiteres Mal überschritten werden.

Dennoch - und das ist die Parallele zur Pandemiebewältigung, für die ich in diesem Text sensibilisieren möchte - bleiben notwendige politische Konsequenzen in den meisten Ländern aus.

Der Einfluss von Interessengruppen auf politische Entscheidungsprozesse

Die Suche nach dem Grund dafür führt mich zu dem unschönen Befund, dass von den politischen Verantwortungsträgern immer wieder bestimmten Interessengruppen auf den Mund geschaut wird und im vorauseilenden Gehorsam (nicht) entschieden wird, weil diese Interessenvertretungen für das  eigene politische Fortkommen als bedeutsam erachtet werden. Der Typus des mutigen Reformpolitikers scheint nahezu ausgestorben zu sein - quer über Parteigrenzen hinweg. Damit meine ich Politiker, die aufgrund eigener Überzeugungsbildung politisch Sinnvolles und Notwendiges erkannt haben und sodann entschlossen Veränderungsprozesse anstoßen. Helmut Schmidt formulierte in einem Focus-Interview im Jahr 2013: „ Die politische Klasse hat Angst vor dem Wähler.“ Er griff damit zu kurz und berücksichtigte nicht, dass die Angst vor bestimmten Interessengruppen häufig um ein Vielfaches größer ist. Und, um diese Brücke zu einer aktuellen Debatte zu schlagen, gerade deswegen, ist es gut und sinnvoll, dass diese Einflüsse zumindest transparenter werden und das künftig für Bürgerinnen und Bürger der Fußabdruck dieser Interessengruppen deutlich wird, den diese bei Gesetzgebungsprozessen hinterlassen haben. Das ist eine langjährige Forderung u.a. von Transparency International Deutschland und der „Allianz für Lobbytransparenz – Gemeinsam für eine transparente Interessenvertretung“ (Bundesverband der Deutschen Industrie, Verbraucherzentrale, Verband der Chemischen Industrie, NABU, Die Familien Unternehmen, Transparency International Deutschland), die im Gesetzgebungsprozess zum sog. Lobbyregister leider nicht mehr aufgenommen wurde, für die aber auch künftig noch gestritten werden wird.

 

Bleiben Sie gesund

Ihr

Sebastian Fiedler